von Brigitte Schumann

Während das NRW-Schulministerium den Bruch mit der Inklusionspolitik der Vorgängerregierung in seinem Evaluationsbericht darstellt, könnte die Hamburger Evaluation Grundlage für die Weiterentwicklung inklusiver Bildung sein – wenn die Politik das wollte.

Das NRW-Schulministerium hat seinen hausintern verfassten „Bericht zur Evaluation des Ersten Gesetzes zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen“ im März 2019 an den Landtag überwiesen (LT Vorlage 17/1954). Der Bericht wird dazu benutzt, die „Neuausrichtung“ der Inklusion als notwendige Konsequenz aus den Fehlern und Versäumnissen der Vorgängerregierung darzustellen. Als Grundlage für die Entwicklung inklusiver Bildung in NRW ist er untauglich, da Inklusion als Ziel nur behauptet, aber nicht verfolgt wird. Dagegen enthält der von Wissenschaftlern erstellte Hamburger Evaluationsbericht EiBiSch (Evaluation von inklusiver Bildung in Hamburgs Schulen), der Ende 2018 veröffentlicht wurde ein „Füllhorn von wichtigen Vorschlägen“ für die inklusive Weiterentwicklung, wie Vertreter der GEW Hamburg jüngst formulierten.

Die „Neuausrichtung“ der schulischen Inklusion

Das NRW-Schulministerium hat sich mit der „Neuausrichtung“ der schulischen Inklusion eine Definition von Inklusion zurechtgelegt, die einer Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gleichkommt. Die ministeriellen Maßnahmen zielen auf den Erhalt des Sonderschulsystems. Sie verfestigen die Sonderrolle des Gymnasiums als unbeteiligter Zuschauer, während die bestehenden Angebote des Gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe auf Schwerpunktschulen reduziert und auf integrierte Schulformen konzentriert werden.

Der Evaluationsbericht rückt den Verlust von Sonderschulstandorten als Folge rot-grüner Regierungspolitik in das Zentrum seiner Kritik. Beklagt wird vor allem, dass die Sonderschule für den Förderschwerpunkt Lernen in ihrem Bestand gefährdet ist. Mit Vehemenz wird das Sonderschulsystem vom Vorwurf der Segregation und der Exklusion freigesprochen. „Wenn Familien sich für ein Förderschulangebot entscheiden, kann und soll dies nicht als Exklusion gewertet werden.“ Folglich gibt es in NRW auch keine Segregations- oder Exklusionsquoten, die in der Wissenschaft längst als Kriterium für den Entwicklungsstand schulischer Inklusion gelten. Wie die Kultusministerkonferenz (KMK) spricht auch das Ministerium euphemistisch von „Förderschulbesuchsquoten“.

Die Allgemeine Bemerkung Nr.4 des zuständigen UN-Fachausschusses nimmt eine zwar nicht rechtsverbindliche, aber maßgebliche und international anerkannte Auslegung von Artikel 24 (UN-BRK) für die Vertragsstaaten vor und schließt das dauerhafte Nebeneinander von segregierendem Sonderschulsystem und allgemeinem Schulsystem als unvereinbar mit der UN-BRK aus. Darüber setzt sich der Evaluationsbericht mit einer Mischung aus Ignoranz und Arroganz hinweg. Vorrang haben die geltenden schulgesetzlichen Vorgaben für Inklusion im 9. Schulrechtsänderungsgesetz, dem die jetzigen Regierungsfraktionen bei der parlamentarischen Verabschiedung ihre Zustimmung verweigerten.

Kein Interesse an Aufklärung der „Etikettierungsschwemme“

Prof. Wocken hat die sonderpädagogische „Etikettierungsschwemme“ als bundesweites Phänomen aufgedeckt und angeprangert. Damit ist gemeint, dass die Zunahme von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen nicht mit der Abnahme von Kindern in den Sonderschulen einhergeht. Stattdessen werden immer mehr Kinder der allgemeinen Schule als sonderpädagogisch förderungsbedürftig diagnostiziert und etikettiert. Das Wissenschaftlerteam Knauf /Knauf hat diese Entwicklung in besonders auffälliger Weise in NRW nachgewiesen und eine Aufklärung der Ursachen angemahnt.

Der NRW-Bericht zeigt kein Interesse an Aufklärung. Er gibt sich mit Vermutungen zufrieden. Für die drastische Zunahme der Förderquote in der Sekundarstufe, insbesondere im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, wird zum einen die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung bemüht, zum anderen ein „Nachholbedarf“ für einen in der Grundschule noch nicht förmlich festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf vermutet. Dass unter dem Vorzeichen von Inklusion Etikettierungshemmungen bei der Sonderpädagogik sinken könnten, weil es keinen Automatismus mehr für eine Sonderschulüberweisung gibt, und Schulen ein Interesse haben könnten, einen zusätzlichen Ressourcenbedarf anzumelden, kommt gar nicht in Betracht.

Der Kontext des Hamburger Evaluationsberichts

Die Hamburger Schulbehörde wiederum hat mit der Umsetzung des bürgerschaftlichen Auftrags zur Evaluation der inklusiven Bildung in Hamburg Wissenschaftler betraut. Zum Untersuchungsauftrag über die Entwicklung der im Schuljahr 2012/13 in Hamburg flächendeckend eingeführten inklusiven Bildung gehört die Klärung, welche Bedingungen zum Gelingen von inklusiver Bildung beitragen, aber auch welche Hindernisse es auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem gibt. Die Ende 2018 vorgelegte und veröffentlichte Studie EiBiSch ist eine komplexe Längsschnittuntersuchung mit einem quantitativen und einem qualitativen Analyseteil.

Im Vorwort zum Evaluationsbericht betont Schulsenator Ties Rabe, dass der Inklusionsbegriff der Hamburger Schulbehörde darauf abzielt, „Lernorte zu schaffen, an denen alle Kinder unabhängig von körperlichen oder geistigen Fähigkeiten und ihrer soziokulturellen Herkunft gemeinsam lernen können“.

Wissenschaftliche Befunde und Empfehlungen

Die wissenschaftlichen Ergebnisse und Vorschläge enthalten viele unbequeme Botschaften. Die Wissenschaftler stellen als größte Herausforderung für die inklusive Schulentwicklung die unakzeptabel hohe Anzahl von Jugendlichen in den Stadtteilschulen heraus, die am Ende der Klassenstufe 6 die Mindeststandards nicht erfüllen. Das Hamburger Zweisäulenmodell mit Gymnasium und Stadtteilschule „verschärft den Trend zur Exklusion“, lautet die Aussage des Wissenschaftlergremiums.

Die Segregationsquote muss aus Sicht der Forscher weiter abgebaut werden. Dabei ist darauf zu achten, dass das Gymnasium am Umbauprozess beteiligt wird. Die Stadtteilschule werde durch die einseitige Aufgabenverteilung in die Rolle der „Restschule“ gedrängt.

Nachdrücklich wird festgestellt, dass die hohe Quote der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard unterschreiten, nicht auf die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zurückzuführen ist. Sie stellen gegenüber „weiteren Problemlagen im individuellen, sozialen und kulturellen Heterogenitätsspektrum quantitativ ein eher randständiges Problem dar“. Ihre Präsenz in der allgemeinen Schule hat einen positiven Einfluss auf leistungsstärkere und leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler.

Die Untersuchungen haben ergeben, dass die Zugehörigkeit zu einer sonderpädagogischen Förderkategorie kein relevanter Prädikator für Schulleistungen ist. Die Kategorie sonderpädagogische Förderung im Bereich Lernen ist unspezifisch und von geringem diagnostischem Wert. Daher stellen die Forscher die Frage, warum daran festgehalten wird, zumal sich auch zeigt, dass sonderpädagogisch geförderte Schülerinnen und Schüler schlechtere sozial-emotionale Schulerfahrungen machen als die nicht sonderpädagogisch geförderten.

Für inklusive Bildung ist eine personale Orientierung bezogen auf Diagnostik, Unterricht und Förderung konstitutiv. Für die Autoren der Studie muss sich inklusive Bildung daher aus der sonderpädagogischen Verhaftung und dem alten Denken in sonderpädagogischen Förderkategorien lösen. Anstelle von Etikettierung muss eine frühzeitige pädagogische Förderung treten, die lernprozessbegleitend und lerngegenstandsbezogen ist.

Eine der großen Herausforderungen für die inklusive Schulentwicklungsehen sie darin, den Widerspruch zwischen Individualisierung und Standardisierung des Lernens aufzulösen.

Die Forscher können keinen Nachweis für einen linearen Zusammenhang zwischen dem beklagten Mangel an Ressourcen und den Leistungsergebnissen liefern. Sie betonen, dass der Einsatz und Gebrauch der Ressourcen in einem adaptiven Unterricht entscheidend zum Erfolg der pädagogischen Prozesse beiträgt. Schulen müssten deshalb darin unterstützt werden, die „Möglichkeitsräume der inklusiven Bildung“ zu nutzen.

Das große Schweigen

Die Hamburger Bildungspolitik könnte die Evaluation für eine konsequente inklusive Schulentwicklung nutzen. Aber stattdessen hat man sich darauf verständigt, die Studie nicht im Schulausschuss zu thematisieren?, da das Thema Inklusion hinreichend behandelt worden sei.

Die Gründe für dieses beschämende „Schweigekartell“ sieht die Hamburger GEW darin, dass die Studie dazu anregt, die vorherrschende Debatte über die materiellen und personellen Ressourcen der letzten Jahre zu verlassen und das Thema Inklusion in eine unbequeme inhaltliche Auseinandersetzung zu überführen. Die Studie fordert schließlich dazu auf, unter der Zielperspektive von inklusiver Bildung die Rolle der Sonderpädagogik, die Anpassung des Lernens an Leistungsstandards sowie die Struktur des Zweisäulenmodells in Frage zu stellen.

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