von Brigitte Schumann                                      03/2021

Die Soziologen Esser und Seuring behaupten mit ihrer Studie, dass strikte Leistungsdifferenzierung im Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen die soziale Ungleichheit nicht verschärft, sondern über kognitive Homogenisierung für bessere Leistungen und mehr Leistungsgerechtigkeit sorgt.

Sie haben in ihrer Studie „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit“ (veröffentlicht in der Zeitschrift für Soziologie 2020, 49 (5-6), 277-301) drei Typen von Übergangsregelungen nach der Grundschule in den Bundesländern identifiziert: eine „komplett liberale“ Variante mit der freien Elternwahl, eine „mittelmäßig strikte“ Variante und eine „strikte leistungsbezogene“ Regelung. Sie haben diese Variablen verknüpft und abgeglichen mit Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), das längsschnittliche Daten zu Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklungen in Deutschland erhebt. In einem Interview im Schulportal stellen sie als Ergebnis ihrer Untersuchung heraus: „Je strikter die Länder beim Wechsel von der Grundschule zu der weiterführenden Schule vorgehen, desto höher fallen die durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den siebten Klassen aus, ganz unabhängig von der Schulform. Die sozialen Effekte nehmen dabei nicht zu, wie häufig vermutet. Stattdessen werden sie gedeckelt“.

„Blinde Flecken“ 

Esser und Seuring sehen mit ihrer Untersuchung die in der empirischen Forschung seit der ersten PISA-Studie 2000 entwickelte Standardposition widerlegt, wonach die frühe Leistungsdifferenzierung soziale Bildungsungleichheiten verschärft, aber wenig Gewinn für das Leistungsniveau insgesamt bringt. Die internationalen Leistungsvergleiche, aber auch die meisten nationalen Untersuchungen hätten die Effekte der sozialen Herkunft, aber nicht der kognitiven Fähigkeiten untersucht. Die Befürworter:innen der traditionellen Gliederung, die immer schon wussten, dass das gegliederte System begabungs- und leistungsgerecht und dem sog. Einheitsschulsystem überlegen ist, sehen sich bestätigt.

Die Forscher machen die kognitive Homogenisierung in Schulen und Schulklassen zur Gretchenfrage eines leistungseffizienten Schulsystems, während sie der Gliederung und damit der Strukturfrage keine bedeutsamen Effekte zuschreiben. Die sozialen Ungleichheiten bestünden unabhängig vom Schulsystem und würden durch Leistungsdifferenzierung „gedeckelt“ bzw. „gedämpft“. Eine vollständige Entkopplung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft sei zudem unrealistisch. Mit dieser Argumentation zeigen sie, wie stark sie im traditionellen gegliederten Schulsystem ideologisch verhaftet sind. Sie sind blind für die nachgewiesenen positiven Effekte der Leistungsheterogenität in integrierten/inklusiven Schulsystemen.

Integrierte/ inklusive Strukturen einerseits und neue Lernkulturen, Praktiken und professionelle Einstellungen für den pädagogischen Umgang mit Verschiedenheit andererseits bedingen und stärken sich gegenseitig. Zusammen ermöglichen sie ergebnisoffene Lernprozesse, individuelle Potentialentfaltung und streben erfolgreiche Lernentwicklungen für alle Lernenden unabhängig von ihrer Herkunft und anderen individuellen Merkmalen an. Während mit strikter Leistungsdifferenzierung eine leistungsgerechtere Platzierung in vorgegebenen gegliederten Schulformen erreicht werden soll, orientieren sich integrierte/inklusive Systeme an sozialer Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und dem Recht auf inklusive Bildung. Das sind auch die  Zielmarken, die die Vereinten Nationen mit der Kinderrechtskonvention, der  Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem aktuellen Programm Education for Sustainable Development, kurz ESD 2030, zusammen mit der UNESCO vorgegeben haben.

Heterogenitätsgewinne

Für die positive Wirkung von Heterogenität im Schulsystem brauchen wir nicht ins Ausland zu schauen. Neben den vielen Grundschulen, integrierten Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen sind besonders die Berliner Gemeinschaftsschulen zu nennen, die als Pilot von 2008 bis 2018 wissenschaftlich begleitet und evaluiert wurden und seit 2018 auch im Berliner Schulgesetz verankert sind. Sie beweisen, dass alle Schülerinnen und Schüler, besonders jene aus sozial benachteiligten Familien, ohne äußere Leistungsdifferenzierung und Noten erfolgreiche Lern- und Leistungsentwicklungen erzielen. Sie ermöglichen auch Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf beachtliche Lernfortschritte. 

Darüber hinaus ist wissenschaftlich belegt, dass mit der Konzeption der durchgängigen Langformschule von Klasse 1-13 und einem an der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler angepassten Lernen ein für Deutschland bislang unvorstellbares, sensationelles Ziel erreichbar ist. Im Abschlussbericht heißt es dazu: „Es ist gelungen, Schülerinnen und Schüler in heterogenen Lerngruppen so zu fördern, dass die in den untersuchten Kompetenzbereichen ermittelten Lernentwicklungen weitgehend von der sozialen Entwicklung entkoppelt sind.“ 

Allerdings ist das bildungspolitische Interesse an dieser Erfolgsgeschichte so gering, dass die Berliner Gemeinschaftsschulen immer noch ein „Nischendasein“ fristen.          

Die integrierten Gesamtschulen in NRW haben sich inzwischen fast alle von dem vorgeschriebenen KMK Standardmodell der äußeren Fachleistungsdifferenzierung gelöst. Aus gutem Grund. Sie haben festgestellt, dass die „Sortierung“ der Schülerinnen und Schüler nach Leistung im Kurssystem für lernschwächere Schüler:innen besonders abträglich ist, weil sie sich „abgeschrieben“ fühlen, während binnendifferenzierendes gemeinsames Lernen allen Lernenden nützt. Die Abkehr von leistungsbezogener Differenzierung hat zusätzlich durch die inklusive Entwicklung an Gesamtschulen eine starke Dynamik erfahren.

Aus den zahlreichen wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen zum gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen, aus der interkulturellen Bildungsforschung und der Geschlechterforschung sind wissenschaftliche Heterogenitätsdiskurse entstanden. Über Ausbildung und Fortbildung könnten sie sehr viel stärker, als es derzeit geschieht, in die pädagogische Praxis hineinwirken und die Haltung und den professionellen Umgang mit Heterogenität in ihren vielen Facetten positiv beeinflussen.  Heterogenität ist lernbar und gewinnbringend! Die Schulen des Deutschen Schulpreises, die mehrheitlich integrierte Schulformen mit inklusiver Praxisorientierung repräsentieren, sind ein Beweis dafür.  

Erklärungsbedürftig

Esser und Seuring verweisen in ihrem Beitrag in der Zeitschrift für Soziologie auf die besseren Leistungsergebnisse in Bayern und führen diese auf die kognitive Homogenisierung im bayerischen Schulsystem zurück. Ist die Annahme, dass die Leistungsunterschiede weniger der „lernförderlichen“ Wirkung kognitiver Homogenisierung als der stärkeren sozialen Selektivität des Gymnasiums in Bayern zuzuschreiben sind, abwegig? In Bayern verhilft die strikte Übergangsregelung zum Gymnasium den in Mittelschulen umbenannten Hauptschulen noch zu einer stabilen Übergangsquote von 30 % und verhindert so, dass sie sich zu sozial segregierten Schulen wie in NRW entwickeln.  

Die Förderschule Lernen konnte natürlich nicht Gegenstand der Untersuchung sein, da die Übergänge dorthin anders geregelt sind. Da die Schüler:innen mit dem Förderbedarf Lernen durch sonderpädagogische Feststellungsverfahren, auch unter Gebrauch von  Intelligenztests, ermittelt werden, könnte man annehmen, dass in den Förderschulklassen kognitive Homogenisierung weitgehend erreicht wird. Warum sind hier die Leistungsergebnisse besonders gering? Versagt hier die These von den Vorzügen der lernförderlichen kognitiven Homogenisierung, weil noch ganz andere Faktoren für eine gute Lernentwicklung bedeutsam sind?  Z.B. das Lernen mit Peers aus unterschiedlichen sozialen Milieus mit anderen Kompetenzen und Verhaltensweisen, das den stigmatisierten Schüler:innen mit Armutshintergrund vorenthalten wird. Genau dies hat Klemm und Preuss-Lausitz 2011 in ihrem Gutachten „Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in NRW“ bewogen, das Auslaufen dieser Schulart als „Armenschule“ dringend zu empfehlen:

Verletzung der Kinderrechte

Die bildungspolitische Empfehlung von Esser und Seuring lautet: „Nicht die weitere Öffnung und Abkehr von dem Kriterium der Leistungsdifferenzierung hilft, die Effizienz des Bildungswesens zu steigern und die sozialen (und ethnischen) Bildungsungleichheiten zu dämpfen, sondern eine wieder stärkere Orientierung daran.“ Es gelte Fehlplatzierungen bei der „Sortierung“ möglichst vollständig zu vermeiden, wobei die Wissenschaftler zu den „Fehlplatzierten“ auch Kinder aus den unteren sozialen Schichten zählen, die trotz einer Gymnasialempfehlung nicht das Gymnasium besuchen. Das Ziel solle durch verbindliche Empfehlungen und „stärkere Kontrollen schulischer Abläufe“ erreicht werden. Zur Ermittlung der kognitiven Fähigkeiten seien Noten allein nicht ausreichend. Es sollten „regelmäßige standardisierte Evaluationen der Fähigkeiten“ vorgenommen werden. Auch Intelligenztests könnten helfen, „um den Übergang zu objektivieren“.

Hier erweisen sich die Maßnahmen zur Sicherung von mehr „Leistungsgerechtigkeit“ als krasse Verstöße gegen die Kinderrechte. Kinder werden nicht als Subjekte ihres Lernens mit eigenen Rechten anerkennt. Sie werden zu Testobjekten degradiert, damit sie zu den Schulformen passen, die ihnen nach möglichst „lupenreiner Sortierung“ zugewiesen werden. Besonders die Pädagogik der Vielfalt, zu der sich auch die Grundschulpädagogik bekennt, ist herausgefordert, sich den kinderfeindlichen Vorstellungen entgegenzustellen.

Inklusive Gleichheit herstellen!

Es geht nicht um kognitive Gleichheit, sondern um inklusive Gleichheit. Das ist der transformatorische Auftrag an das Bildungssystem, um die menschenrechtliche Norm des Rechts auf inklusive Bildung zu erfüllen und damit auch die zentrale Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung zu schaffen,

Inklusive Gleichheit im Schulsystem verlangt, dass alle Schulen lernen, sich Kindern und Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit anzupassen, und sie in ihrem Selbstwertgefühl, dem Bewusstsein ihrer menschlichen Würde, ihrer Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die natürlichen Lebensgrundlagen zu stärken und handlungsfähig zu machen. Inklusive Gleichheit wird gerade in einer Gesellschaft, die durch soziale Spaltung zunehmend auseinanderdriftet und ihre demokratische Fundierung damit gefährdet, zu dem zentralen Ankerpunkt. Dagegen wird mit kognitiver Homogenisierung eine Gleichheit propagiert, die das Recht auf inklusive Bildung nicht nur ignoriert. Sie macht seine Umsetzung völlig unmöglich.