von Brigitte Schumann                                           12/2020

Die Daten des nationalen PISA-Berichts 2018 hätten eigentlich für das deutsche PISA-Konsortium endlich Anlass sein müssen, die schulstrukturellen Gründe aufzudecken, die die großen Leistungsunterschiede von Jugendlichen an nicht gymnasialen Schularten gegenüber Gymnasiasten erklären.

Deutschland liegt mit 585 Punkten bei PISA 2018 signifikant über dem OECD Durchschnitt von 487 Punkten. In Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften ist der Anteil der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler in nicht gymnasialen Schularten jedoch signifikant gestiegen und der Leistungsabstand zu Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums hat sich vergrößert. Er beträgt in der Lesekompetenz ca. drei Schuljahre.

Weiße Salbe zur Beruhigung

Im deutschen PISA-Bericht wird dazu zwar festgestellt: „Dass sich 29 Prozent der Jugendlichen an nicht gymnasialen Schularten auf den untersten Kompetenzstufen konzentrieren und nur über sehr eingeschränkte Lesekompetenzen verfügen, ist ein besorgniserregender Befund.“ Aber die von dem Forscherteam zur Problemlösung verabreichte Medizin lautet schlicht: mehr Förderung für leseschwache Kinder und Jugendliche. „In Deutschland sind weiterhin Bemühungen notwendig, die sprachliche Bildung insgesamt zu intensivieren,“ heißt es im PISA-Bericht.

Auch für die Leistungsunterschiede in Mathematik, wo ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler lediglich über rudimentäre Kenntnisse verfügt, wird weiße Salbe verschrieben. Es gelte, „sich auf diese Gruppe noch stärker zu konzentrieren und über gezieltere Unterstützungsmaßnahmen nachzudenken. Die Einführung von Bildungsstandards und ihre Implementation sei ein wichtiger Schritt gewesen.“ Darüber hinaus sei es erforderlich, „dass Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Politik jeweils Verantwortung für den Erfolg des Lernens übernehmen müssten“. Wer hätte das gedacht!

Des Pudels Kern: die soziale Selektivität der hierarchischen Schulstruktur

Dass die Frage der Bildungsgerechtigkeit massiv berührt ist, wenn alle Schularten sich den gesellschaftlichen Herausforderungen stellen müssen, während das Gymnasium sich darum wenig kümmern muss, wird von den PISA-Forschern nicht thematisiert. Dagegen erkennt Joachim Lohmann, der sich intensiv mit PISA 2018 beschäftigt hat, in den Leistungsunterschieden eine soziale Diskriminierung der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler.

Die PISA-Daten erlauben, die Leistungs- und Sozialdaten auch mit den Schulsystemen zu korrelieren. So kommt Lohmann zu dem Ergebnis, dass 37 Prozent der Differenzen in den Leistungsergebnissen der PISA-Länder auf dem Zeitpunkt beruhen, an dem die Schülerinnen und Schüler getrennt werden. Je früher die Schultrennung, desto schärfer fällt die soziale Selektivität und die soziale Leistungsdiskriminierung aus. „Weil Deutschland die Schülerinnen und Schüler am frühesten separiert und auch noch auf vier verschiedene Schularten aufsplittet, hat es das schärfste schulische Selektionssystem,“ sagt Lohmann.

Dass es diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Schulstruktur und der engen Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg im deutschen Schulsystem gibt, ist keineswegs neu. 2008 hatte die OECD sich deshalb in ihrem Wirtschaftsbericht über Deutschland zu der bildungspolitischen Empfehlung veranlasst gesehen, die frühe Aufteilung zehnjähriger Kinder auf verschiedene Schulformen aufzugeben.

Von der Unwirksamkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse

Das Beschweigen schulstruktureller Zusammenhänge ist eine Art, wissenschaftliche Erkenntnisse unwirksam zu machen. Eine andere Variante besteht darin, die Schulstruktur zwar zu problematisieren, aber strukturelle Änderungen für aussichtslos zu erklären. Das jüngste Beispiel dafür gibt Prof. El-Mafaalani ab.

Die GGG (Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.) hat sich mit den Thesen in seinem Buch „Mythos Bildung“ auseinandergesetzt. Sie kritisiert, dass er hinter seinen eigenen Erkenntnissen zurückbleibt. Er schreibt, „dass eine frühe Selektion Chancenungleichheit erhöht und die Entscheidungen vielleicht ausgewogener ausfallen würden, wenn der Übergang in unterschiedliche Bildungsgänge erst im Alter von 15 oder 16 Jahren erfolgte, wie in den meisten OECD Staaten. Stattdessen favorisiert er ein zweigliedriges System“.

In seiner Erwiderung zu der Kritik rechtfertigt El-Mafaalani seine bildungspolitischen Vorstellungen nicht als seine „persönliche Idealvorstellung“, sondern als “tragfähigen Kompromiss“. Die Widersprüche im Bildungssystem radikal auflösen zu wollen, wäre „realitätsfern“. „Gegen ein wesentlich längeres gemeinsames Lernen sind offensichtlich mehrheitlich alle Akteure: die Lehrkräfte, die Eltern, die Ministerien und auch die politischen Mehrheiten. Gegen all die Akteure etwas mit der Brechstange durchzusetzen, ist extrem riskant,“ sagt El-Mafaalani. Es wäre mit fehlendem Konsens und fehlender Ausstattung „nicht mehr nur riskant und mutig, sondern geradezu fahrlässig“.

So kann die Wissenschaft tatsächlich ihre ureigenen Erkenntnisse unbrauchbar machen und den gesellschaftspolitischen Druck rausnehmen, indem sie ihre Erkenntnisse für politisch nicht durchsetzbar erklärt.

Noch deutlicher übernimmt Prof. Bos in einem Interview mit dem Spiegel das Geschäft der Politik, indem er davon abrät, das Gymnasium abschaffen zu wollen: „Ich halte das bisherige System für ungerecht, das sagen mir aber weniger die Iglu- und Pisa-Studien, das sagt mir vielmehr der gesunde Menschenverstand. Warum tun wir zehnjährigen Kindern den Stress an, sie mindestens ein halbes Jahr für den Schulwechsel zu drillen? Und warum lassen wir die Hauptschüler dumm in der Ecke stehen? Nur: Es wird nicht gelingen, das Gymnasium abzuschaffen. Wer das will, wird nicht wiedergewählt.“

Ethische Ansprüche an die Bildungswissenschaft

Eine Bildungswissenschaft, die sich dem Grundgesetz und den Menschenrechten verpflichtet fühlt, muss sich für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit einsetzen. Da das Bildungssystem soziale Ungleichheit verschärft und die gesellschaftliche Spaltung vertieft, hat die Wissenschaft im Rahmen ihrer Forschung Ungleichheitsentwicklungen und deren Ursachen anzuzeigen und den Finger in die Wunde zu legen, auch wenn es den politischen und gesellschaftlichen Akteuren nicht gefällt.

Man stelle sich einmal vor, die Klimaforschung würde argumentieren, dass der Kohleausstieg zur Rettung des Klimas zwar notwendig, aber politisch nicht durchsetzbar sei und deshalb nicht in Erwägung gezogen werden sollte. Muss nicht die Produktion von Wahrheit auch der Maßstab für die Bildungswissenschaft in der Demokratie sein?

Die politische Reaktion auf PISA 2018

Angesichts des verharmlosenden PISA-Berichts kann die bildungspolitische Reaktion darauf nicht verwundern. Die Bildungspolitik redet sich die Ergebnisse mit dem Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich schön, beklagt - wie immer folgenlos - den Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischem Hintergrund und verweist ansonsten auf eine gemeinsame Initiative von Bund und Ländern, um Schulen in schwierigen Lagen zu unterstützen.

Die Stellungnahme, die Prof. Lorz als vormaliger Präsident der Kultusministerkonferenz anlässlich der Übergabe des PISA-Berichts abgegeben hat, ist Routine und „business as usual“. Für die KMK gehören Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit auch in der 2020 beschlossenen „Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens und die gesamtstaatliche Verantwortung der Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen“ nicht zu den zentralen bildungspolitischen Fragen.