von Brigitte Schumann

Mit ihren Empfehlungen missachtet die Kultusminister­konferenz (KMK) die menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ignoriert die schwerwiegende Kritik an der sonderpädagogischen Praxis aus jüngster Zeit.

Mit den „Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen“, die die KMK am 14. 03. 2019 unbemerkt von der Öffentlichkeit verabschiedet hat, ergänzt sie ihre Beschlüsse von 2010 und 2011 zur Umsetzung von Inklusion in Schulen. Sie beweist damit erneut, dass sie nicht der menschenrechtlichen Vorstellung von Inklusion verpflichtet ist, sondern in der Tradition der Sonderpädagogik verhaftet bleibt.

Die Position der KMK zum Förderschwerpunkt Lernen

Am Beispiel des Förderschwerpunktes Lernen demonstriert die KMK, dass sie keineswegs an den Rückbau und die Überwindung des segregierenden und diskriminierenden Sonderschulsystems zugunsten eines inklusiven Schulsystems denkt, wie die UN-BRK dies vorschreibt und wie es auch die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte immer wieder einfordert. Sie übernimmt stattdessen die Behauptung der Sonderpädagogik, dass „die Vielzahl von sonderpädagogischen Lernorten und Organisationsformen“, einschließlich der Sonderschulen, der besonderen Verpflichtung der Sonderpädagogik entspricht, sich der individuellen Entwicklung des einzelnen Kindes flexibel anzupassen,   

Der Versuch, die Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen zu definieren, fällt zwar wortreich, aber inhaltlich vage aus, wenn es über sie beispielweise heißt „Schülerinnen und Schüler mit erheblichen Schwierigkeiten im schulischen Lernen (…) weisen bei der Entwicklung von Konzepten und Lernstrategien Denk-und Lernmuster auf, die bei der Begegnung schulischer Lerngegenstände zu einer Irritation bzw. Desorientierung führen können, sodass durch Unterstützungs- und Fördermaßnahmen der allgemeinen Schule allein, noch keine Basis für den Anschluss an schulisches Lernen gefunden werden kann.“ Dieser Definitionsversuch unterscheidet sich nur dem Wortlaut nach von allen anderen früheren Definitionsversuchen der KMK. Allen liegt die Überzeugung der Sonderpädagogik zugrunde, dass die allgeneine Schule es schulorganisatorisch nicht schaffen kann, Kindern mit Lern- und Entwicklungsproblemen mit ihren Mitteln gerecht zu werden und diese folglich sonderpädagogischer Förderung bedürfen und behindert sind.

Wie wenig objektivierbar und wissenschaftlich valide die Zuschreibung des Förderschwerpunktes Lernen ist, muss die KMK selbst zugeben, wenn sie die Übergänge zwischen einem „schulischen Unterstützungsbedarf“ und einem „festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot entsprechend einem sonderpädagogischen Förderbedarf“ als „fließend“ bezeichnet. Das hindert sie aber keineswegs daran, im grenzenlosen Vertrauen in die diagnostische Expertise der Sonderpädagogik zu erklären, dass sie an dieser Unterscheidung grundsätzlich festhalten wird.

Obwohl die KMK zugeben muss, dass die Zuordnung zum Förderschwerpunkt Lernen wegen der zieldifferenten Ausrichtung erhebliche Auswirkungen auf die Bildungslaufbahn und die Abschlüsse hat, wird das Verfahren zur Ermittlung des Förderbedarfs und des Förderschwerpunktes eher beiläufig gestreift. Hier wird dem rechtlichen Mangel Vorschub geleistet, den Volker Igstadt, ehemaliger Präsident des Verwaltungsgerichts Kassel, in den fehlenden gesetzlichen Regelungen der Länder hinsichtlich der Feststellungen des Förderbedarfs und der Förderschwerpunkte ausgemacht hat. Soweit solche Vorgaben bestehen, sind sie so weit gefasst, dass es der „weitgehend ungebundenen Entscheidung“ der zuständigen Akteure obliegt, über Förderbedarf und Förderschwerpunkt zu befinden.

Komplette Verdrängung der Kritik an der Sonderpädagogik

Es ist erstaunlich, wie es der KMK gelingt, die aktuelle Kritik an der Praxis der Sonderpädagogik auszublenden und zu verdrängen. Die empirische Forschung hat den Zusammenhang zwischen der Vermehrung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen und der Zunahme der sonderpädagogischen Förderquoten präzise belegt. Für alle Bundesländer hat das Forscherteam Knauf/Knauf nachgewiesen, dass der sonderpädagogische Förderbedarf seit dem Inkrafttreten der UN-BRK im Bundesdurchschnitt um 20% angestiegen ist. Die Autoren wollen die Ursachen dafür, dass immer mehr Kinder der allgemeinen Schule den Stempel der sonderpädagogischen Förderungsbedürftigkeit bekommen, zwar nicht genau festlegen, mahnen jedoch an, dass dieser Sachverhalt dringend problematisiert und analysiert werden muss.

Dass der wachsende Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen nicht auf den Rückbau der Sonderschulen zurückgeführt werden kann, hat Hans Wocken dazu veranlasst, die sonderpädagogische Praxis aufs Schärfste zu kritisieren. Schülerinnen und Schüler mit schulischen Leistungsschwächen werden „per großherziger sonderpädagogischer Diagnostik als Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf identifiziert und etikettiert“. Weil sie in den Regelschulen verbleiben, gelten sie als „inkludiert“ und in der Folge „schnellen die Inklusionsquoten in schwindelerregende Höhen“. Damit ist das Geheimnis der Inklusionsquote „in Wahrheit eine unkontrollierte und ausufernde Etikettierungsschwemme“, verursacht durch „eine Verseuchung der allgemeinen Schule mit dem sonderpädagogischen Defizitblick“.

Sonderpädagogische Fehldiagnosen sind keine Einzelfälle 

Erinnert sei an den Fall Nenad M., der fälschlicherweise als „geistig behindert“ eingestuft wurde, 11 Jahre auf der Sonderschule für „Geistige Entwicklung“ verbringen musste und so in seiner Lernentwicklung extrem behindert wurde. Die Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen das Land NRW konnte er schließlich gewinnen.

Diesen Fall hat die Elterninitiative mittendrin e.V. vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von Kindern mit geistiger Behinderung in den Sonderschulen aufgegriffen, um Schulministerin Yvonne Gebauer aufzufordern, „eine unabhängige Überprüfung der Förderschulen zu veranlassen“. Damit soll sicher- gestellt werden, „dass keine weiteren Kinder und Jugendlichen fälschlich im Bildungsgang „Geistige Entwicklung“ beschult und ihrer Bildungschancen beraubt werden“.

Der Fachausschuss für Förderschulen des Bundeselternrats hat inzwischen auch darauf Bezug genommen und in einem Positionspapier erklärt: „ Der Fall ist nur die Spitze eines Eisberges von Kindern, die irrtümlich für geistig behindert gehalten werden und deswegen eine Förderschule besuchen müssen.“ Der Fachausschuss fordert, dass es eine jährliche Regelüberprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gibt. „Alle drei Jahre wird diese Regelüberprüfung durch unabhängige, schulexterne Experten vorgenommen, auf Verlangen der Erziehungsberechtigten oder der Schülerin/des Schülers zusätzlich auch außerhalb dieses Zyklus.“ 

Die Bedeutung des Förderschwerpunktes Lernen

Dass die KMK den Förderschwerpunkt Lernen ausgewählt hat, um der Sonderpädagogik grenzenloses Vertrauen in ihre diagnostische Expertise auszusprechen, ist kein Zufall. Die dem Förderschwerpunkt Lernen zugeordnete Sonderschule für Lernbehinderte ist Keimzelle und Rückgrat des deutschen Sonderschulsystems, das sich nach 1945 mit der Expansion der Hilfsschule als Vorläufer der Sonderschule für Lernbehinderte entwickeln konnte.

Genau an der Berechtigung dieses Förderschwerpunktes und dieser Sonderschule hat sich immer Kritik entzündet. Es sei unmöglich, leistungsschwache Grundschülerinnen und Grundschüler von Schülerinnen und Schülern mit einer sogenannten Lernbehinderung zu unterscheiden. Die historischen Forschungsarbeiten von Dagmar Hänsel untermauern das und eröffnen zudem eine Sicht auf die Geschichtsbelastung dieses Sonderschultyps, der im Nationalsozialismus seine Wurzeln hat (Zeitschrift für Heilpädagogik 1/2020).

Der Förderschwerpunkt Lernen nimmt bundesweit einen Anteil von 36,5% an allen Förderschwerpunkten ein. Wenn er fällt, dann bricht der Eckstein des sonderpädagogischen Systems weg und bringt das System zum Einsturz, das die KMK im Schulterschluss mit der Sonderpädagogik nach 1945 gegen alle Reformbemühungen bislang erhalten hat.