swkDie empirische Bildungsforschung drängt massiv auf die Implementation daten- und evidenzbasierter Lernverlaufsdiagnostik und Förderung in Schulen. Welche Veränderung bedeutet das für die Lernenden? Welche Interessen verfolgt die Bildungspolitik dazu?

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat in ihrem Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ auch diese Forderung 2022 erhoben und konkretisiert. Ausgangspunkt ist für sie die große Gruppe von Grundschüler:innen, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlt.

Empfehlungen des SWK-Gutachtens

In das Zentrum ihres Gutachtens stellt die SWK die Umsetzung eines Konzepts „zur systematischen Diagnose und Förderung der für die Erreichung der sprachlichen und mathematischen Mindeststandards erforderlichen basalen Kompetenzen“. Es soll „verbindlich im Schulprogramm verankert werden, mit dem Ziel der frühzeitigen Identifikation von Förderbedarf und gezielter Unterstützung“. Es soll sich an Kriterien der wissenschaftlichen Evidenz und der datenbasierten Entwicklung orientieren. Dafür müssten hochwertige Fort- und Weiterbildungsangebote für Schulleitungen und pädagogisches Personal sowie finanzielle Ressourcen für „die systematische Entwicklung von forschungsbasiertem (digitalem) diagnostischem und Fördermaterial“ bereitgestellt werden.

Vorschläge der empirischen Sonderpädagogik

Die NRW-Landesregierung hat 2022 einen „wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Unterstützung“ in Auftrag gegeben. 

In ihrem Gutachten empfehlen die wissenschaftlichen Vertreter:innen der Sonderpädagogik zur Reduktion der sonderpädagogischen Förderquote u.a. den Ausbau von Prävention in den allgemeinen Schulen. Hierzu sollen verpflichtend und frühzeitig universelle Screenings „zur Erfassung der sozialen, emotionalen, lernbezogenen, sprachlichen und verhaltensbezogenen Situationen von Schülerinnen und Schülern in Klassen allgemeiner Schulen“ eingesetzt werden.

Wissenschaftlich erprobte evidenzbasierte Unterrichts-, Diagnose- und Förderinstrumente sollen verstärkt mit der Anwendung einer lernprozessbegleitenden Diagnostik und deren Dokumentation für alle Schülerinnen und Schüler zum Einsatz kommen. Eine besonders präzise und verbindliche Dokumentation der Diagnose- und Fördermaßnahmen wird für die präventiv geförderten Schüler:innen zur Bestimmung ihres sonderpädagogischen Förderbedarfs gefordert. „Den begutachtenden Personen sollte in diesem Punkt eine stärkere Rechenschaftspflicht als bislang auferlegt werden. Sie sollten den Lern- und Entwicklungsverlauf der Schülerinnen und Schüler dokumentieren“, so dass aus den Dokumentationen deutlich hervorgeht, dass „bestmöglich wissenschaftlich erprobte Maßnahmen zur Prävention, Förderung und für den Unterricht angeboten wurden“.

Effekte des evidenz- und diagnosebasierten Lernens

Was aber bedeuten diese Empfehlungen? Die empirische Forschung verbindet mit evidenz- und diagnosebasiertem Lernen ausschließlich positive Effekte. Die Sicherung basaler Kompetenzen, das Erreichen der Mindeststandards für zielgleich unterrichtete Schüler:innen, die Reduzierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, die Verbesserung der Bildungsqualität und die Weiterentwicklung der inklusiven Schulentwicklung werden in Aussicht gestellt. 

Dagegen besteht die ganz konkrete Gefahr, dass frühzeitige und regelmäßige Screenings zur Identifikation der „sozialen, emotionalen, sprachlichen, lern- und verhaltensbezogenen Situation aller Schüler:innen“ dazu führen, dass diejenigen vorschnell auf Lern- und Verhaltensprobleme festgelegt und reduziert werden, die in den Überprüfungen von vorgegebenen Standards abweichen.

Mit der zugeschriebenen Rolle als „Risikoschüler:innen“ geraten sie in den Mechanismus lernverlaufsbegleitender Diagnose-Förderkonzeptionen. Ihre Lernfortschritte und Lernentwicklung werden „engmaschig“ analysiert, kontrolliert und gesteuert. Das Ziel ist die Anpassung der Lernenden an die geforderten Standards. Wenn das nicht gelingt, gilt der sonderpädagogische Förderbedarf als evidenzbasiert nachgewiesen. 

Wie sollen Schüler:innen Lernmotivation und Vertrauen in das eigene Lernen entwickeln können und Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, wenn sie als passives Objekt am „Fliegenfänger“ der Lernverlaufsdiagnostik hängen? Wenn die Dokumentation des Lernverlaufs für alle Schüler:innen obligatorisch wird, stehen alle unter ständiger Beobachtung und unter Anpassungsdruck.

2021 hat sich Deutschland auf der UNESCO-Weltkonferenz zu Bildung für nachhaltige Entwicklung 2021 in Berlin dazu verpflichtet, die Schule zu einem „Reallabor“ für transformative Bildung und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung zu machen.

Transformative Bildung will Lernenden Lernmöglichkeiten schaffen, ihr Wissen gestaltend und verändernd für die Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Der durch schulische Selektionsprozesse schon jetzt verengte Möglichkeitsraum für Selbstwirksamkeitserfahrungen wird mit der Einführung von datengestützter Lernverlaufsdiagnostik noch enger.    

Schüler:innen-Monitoring im Blick

Das SWK-Gutachten macht deutlich, wie die Forderung nach individueller Lernverlaufsdiagnostik in das Bildungsmonitoring der KMK einzuordnen ist.

Durch die Teilnahme Deutschlands an internationalen Studien wie PISA und IGLU und durch nationale Ländervergleiche des IQB sind auf der Systemebene Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit des Schulsystems zugänglich. Auf der Schulebene erhalten Schulen durch Vergleichsarbeiten Rückmeldungen zu ihren Leistungsergebnissen. Was fehlt, sind Maßnahmen auf der Individualebene, „um für alle Schüler:innen individuell zu bestimmen, ob sie in bestimmten Kompetenzbereichen besonderen Unterstützungsbedarf haben und um den weiteren Lernverlauf systematisch zu beobachten“. Dafür werden geeignete Instrumente der Lernentwicklungsdiagnostik bzw. formativen Diagnostik gebraucht, so die SWK.

Die SWK formuliert damit ein Desiderat, das direkt an bildungspolitische Interessen der KMK anknüpft.

„Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ 

Unter dem Titel „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ hat die KMK in ihrem Beschluss vom 09.12.2021 weitreichende Überlegungen zum Thema „Monitoring und Bildungsdaten“ angestellt.

Aus ihrer Sicht bedarf auch das Thema Monitoring „in den kommenden Jahren einer Weiterentwicklung. Ein Monitoring der zentralen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler laut KMK-Strategie wird länderübergreifend empfohlen. Darüber hinaus sollte diskutiert werden, inwieweit auch die Kompetenzen der Lehrkräfte in einem länderübergreifenden Monitoringkonzept verankert werden können.“

Weiter heißt es dort: „Die evidenzbasierte Steuerung von Schule durch Schulleitungen sowie Schulaufsicht sollte forschungsbasiert weiterentwickelt werden. Dies bedarf der zielgerichteten Initiierung von Projekten zwischen Forschung, Anbietern von digitalen Bildungsmedien und Praxis, die sowohl die Effekte eines datengestützten Unterrichts untersuchen (z. B. Veränderungen auf der Beziehungsebene von Lehrkräften und Lernenden) als auch an Datafizierung angelehnte Fragen zur Lernkultur und Schulentwicklung, Lerndiagnostik und summativer Leistungsbewertung nachgehen.“

In dem Beschluss der KMK wird angedacht, möglichst viele Aspekte des Lernens und Lehrens in quantifizierbare Daten umzuwandeln, die digital verfolgt, überwacht und analysiert werden können. Im Klartext heißt das: Die Schule soll zu einem datengesteuerten Unternehmen umgebaut werden und die Schüler:innen werden das Produkt.

„Bessere Bildung 2035“?

In einer Veröffentlichung der Wübben-Stiftung unter dem Titel „Bessere Bildung 2035“ haben sich die derzeitigen Schulministerinnen Hubig, Prien und Schopper parteiübergreifend auf Maßnahmen verständigt, die bis 2035 bessere Bildung garantieren sollen. Dazu gehört auch die digitale datengestützte Überwachung von Schüler:innenleistungen.

In ihrer Darstellung handelt es sich bei dem Paradigmenwechsel um die Hinwendung zu einer „Kultur der Evaluation und Verantwortung“: „Wir etablieren eine Kultur der Evaluation und der Verantwortung und wechseln zu einer datengestützten Entwicklungs- und Lernverlaufsdiagnostik, die den gesamten Bildungsverlauf im Rahmen einer kohärenten Datenstrategie berücksichtigt, und stellen sicher, dass in den Bundesländern die rechtlichen und technischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.“ 

Ideal wäre für sie „eine Bildungs-ID für jedes Kind, die anonymisiert den Bildungsverlauf dokumentiert. Daneben könnten Förderbedarfe oder bereits in Anspruch genommene Hilfs- und Unterstützungsangebote vor allem für den Übergang dokumentiert werden, um die Kinder im multiprofessionellen Team an der Schule, aber auch mit den weiteren Hilfs- und Unterstützungsangeboten etwa der Kinder- und Jugendhilfe noch gezielter begleiten zu können.“  

Die Vorteile der Datenstrategie werden am Beispiel der Hilfen für förderbedürftige Schüler:innen erläutert. Aber sind nicht auch ganz andere bildungspolitische Anwendungen vorstellbar? Ist die Vorstellung zu weit hergeholt, dass für Selektionsentscheidungen im selektiven Schulsystem, das die drei Schulministerinnen übrigens nicht in Frage stellen, zukünftig Daten auch ganz praktisch benutzt werden könnten?

Entscheidungen zum Übergang nach der Grundschule zu den weiterführenden Schulen lösen immer wieder Kritik aus. Sollen die Entscheidungen bei den Eltern oder den Lehrkräften liegen? Wie verbindlich sollen die Empfehlungen der Schulen sein? Ein Blick auf die digitalen Lernverlaufs- und Entwicklungsdaten könnte helfen, die Selektionsentscheidung evidenzbasiert zu begründen und amtlich festzulegen. 

Der optimierbare Mensch als pädagogisches Menschenbild? 

Problematische Verwendungen von Schüler:innendaten sind aus England bekannt. Dort ist es schon lange üblich, Zielvereinbarungen – target settings – zwischen Schulen und Schüler:innen auf der Basis von digitalen Leistungsdaten zu treffen. Da dort auch die Schulen unter dem Druck von Leistungsvergleichen stehen, gibt es einen Interessenkonflikt. Hinter ehrgeizigen Leistungszielen für Schüler:innen verbergen sich möglicherweise ehrgeizige Ziele der Schulen, ihr Leistungsimage und Prestige in der Öffentlichkeit zu verbessern.

Mit der systematischen Überwachung digitaler datengestützter Lernverläufe vollzieht sich nicht nur die totale Quantifizierung von Bildung und Lernen. Im engen Zusammenhang damit steht die Vorstellung eines Lernobjekts, dessen Existenzialität darin besteht, steuerbar und optimierbar zu sein. Ist das gesellschaftlich gewollt?

Dr. Brigitte Schumann        03/2025