Die nordrhein-westfälische Landesregierung will die vier bestehenden PRIMUS-Schulen, die derzeit in einem Schulversuch das gemeinsame Lernen von Klasse 1 bis 10 erproben, schulrechtlich absichern und ihren Bestand ermöglichen. Das ist zwar erfreulich, aber lange nicht ausreichend – und ein Bruch des Koalitionsversprechen  

Der Entwurf des 17. Schulrechtsänderungsgesetzes (17. SchRÄG) mit dem Titel „Gesetz zur Sicherung von umfassenden Bildungsangeboten und zur Stärkung der Qualität von Schule“ sieht vor, die bisher im Schulversuch laufenden PRIMUS-Schulen zu verstetigen. Der Gesetzesentwurf befindet sich derzeit in der Verbändeanhörung und muss danach vom Landtag verabschiedet werden. Die Koalitionsvereinbarung stellt dagegen neue PRIMUS-Schulen in Aussicht, wenn sie regional abgestimmt sind.

Die erfreuliche Nachricht zuerst

Ja, es ist erfreulich für die bestehenden Schulen, dass die schwarz-grüne Landesregierung die Zitterpartie um ihre Zukunft endlich beenden will. Die Vorgängerregierung aus CDU und FDP hatte zuletzt auf politischen Druck und Empfehlung der wissenschaftlichen Begleitung den Schulversuch 2022 zwar um drei Jahre verlängert. Auf eine eindeutige rechtliche Aussage zur Zukunft der PRIMUS-Schulen wollte sie sich aber nicht festlegen lassen.

Es ist auch begrüßenswert, dass die Fortführung der im Betrieb befindlichen PRIMUS-Schulen „im Wesentlichen unter den gleichen Rahmenbedingungen wie im Schulversuch“ erfolgen soll. Auch konzeptionelle Merkmale wie der Verzicht auf Ziffernnoten bis einschließlich Klasse 8 und die Wahl alternativer Formen der Leistungsbewertung werden nicht infrage gestellt. 

Die Kritik

Nach dem Willen der Landesregierung soll die Laborschule Bielefeld, die 50 Jahre lang das Alleinstellungsmerkmal hatte, als anerkannte staatliche Versuchsschule des Landes gemeinsames Lernen durchgängig zu organisieren, lediglich vier weitere „Geschwister“ bekommen.

Unweigerlich stellt sich die Frage, ob es auch ein bisschen mehr sein darf. Es ist nicht einzusehen, warum es trotz der erfolgreichen pädagogischen Leistungsbilanz der Laborschule und der PRIMUS-Schulen nur vier weitere Schulen geben darf, die Grund- und Sekundarstufe in einer Schule zusammenführen.

Wie die Berliner Gemeinschaftsschulen können auch die PRIMUS-Schulen den Nachweis erbringen, dass sie als Langformschulen Bildungsgerechtigkeit mit guten Leistungsergebnissen für alle Lernenden – ohne Einbußen für leistungsstarke Schüler:innen – verbinden. Selbst mit einer soziokulturell benachteiligten Schülerschaft erzielen sie hohe Lernerfolge. Sie leisten so einen beachtlichen Beitrag zur Überwindung der in Deutschland extrem engen Kopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg.

Für Schüler:innen mit sozialer Benachteiligung und mit Behinderungen, mit Armuts- und Fluchthintergrund ist die Erfahrung von Zusammenhalt und bedingungsloser Zugehörigkeit zu stabilen, sozial verlässlichen Lerngruppen ohne frühe Trennungsbrüche während und nach der Grundschulzeit besonders bedeutsam für die persönliche Entwicklung und Lernbiografie.

Warum bietet die Landesregierung dieses Modell nicht allen Schulträgern als Schulart an? Wer es mit Bildungsgerechtigkeit und Inklusion ernst meint, müsste ein Interesse daran haben, die integrierte Gesamtschule von Klasse 5 bis 13 um die PRIMUS-Schule als kleine integrierte Gesamtschule von Klasse 1 bis 10 zu ergänzen und zu verstärken.

Empfehlung der wissenschaftlichen Begleitung

Die wissenschaftliche Begleitung hat, ausgehend von der gesicherten Annahme, dass in NRW derzeit keine radikale Schulstrukturreform denkbar ist, zwei Standorttypen für die Implementation von PRIMUS-Schulen im bestehenden Schulsystem vorgeschlagen. Sie hat in ihrem schriftlichen Bericht zur 2. Phase der wissenschaftlichen Begleitforschung die PRIMUS-Schule als „eine tragfähige schulstrukturelle Option“ für ländliche und kleinstädtische Räume sowie für besonders stark sozial segregierte urbane Räume empfohlen.

Für die kleine Gemeinde Titz mit ihren 5.000 Einwohner:innen ist ihre PRIMUS-Schule ein großer Gewinn, weil damit allen Kindern ein gutes wohnortnahes Schulangebot gemacht werden kann, und ihnen das Auspendeln erspart wird. Die PRIMUS-Schule in Münster wirkt in einem Stadtteil, in dem sich die sozialen Probleme und vielfachen Benachteiligungen von Menschen mit Armuts-, Migrations- und Fluchthintergrund konzentrieren. Sie sieht ihre Aufgabe als Schule im Brennpunkt darin, mit solidarischen und inklusiven Lernstrukturen Kinder und Jugendliche in ihrer Lernfähigkeit zu stärken und Bildungserfolge zu sichern.  

PRIMUS-Schule als Impulsgeber für Quartiersentwicklung

Immer mehr Schulträger erkennen, wie wichtig es für Quartiere in herausfordernden Lagen ist, Grundschulen in die Quartiersentwicklung einzubeziehen und das schulische Angebot durch Familien- und Beratungsangebote zu erweitern und zu ergänzen. In Anlehnung an die gelungene Konzeption der Familienzentren an Kitas werden Grundschulen zu Familiengrundschulzentren ausgebaut. Inzwischen sind 34 Kommunen mit mehr als 150 Einrichtungen Teil der „Initiative Familiengrundschulzentren NRW“. Auch die Landesregierung hat sich zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der Familienzentren an Grundschulen bekannt. Wie wäre es, wenn es Kommunen beispielsweise ermöglicht würde, Familiengrundschulzentren zu PRIMUS-Schulen auszubauen?

Die Partnerschaft von Eltern, Kindern und Schule würde über die Primarstufe hinaus verstetigt und gefestigt. Kein Kind müsste die Schule während der Grundschulzeit oder nach der vierten Grundschulklasse verlassen. Die Kinder bekämen Zeit für effizientes Lernen ohne Druck und Angst sowie die Chance auf eine nachholende Entwicklung.

Ein Blick über den Zaun

Langformschulen gibt es nicht nur als Gemeinschaftsschulen in Berlin, sondern auch in Brandenburg, Schleswig-Holstein und Thüringen. In Berlin hat sich nach dem Abschluss der Schulversuchsphase die Zahl der Gemeinschaftsschulen ungefähr verdoppelt. In Schleswig-Holstein verfügt fast die Hälfte der dortigen Gemeinschaftsschulen über eine eigene Grundstufe.

Unter den diesjährigen Preisträgern des Deutschen Schulpreises befinden sich zwei Berliner Gemeinschaftsschulen. Warum meint NRW, die Erfolge der PRIMUS-Schulen so kleinreden und sich gegen jegliche Ausweitung des Modells stellen zu müssen?

Ein historischer Blick macht überdies deutlich, dass es für die Begrenzung der Grundschule auf vier Jahre keine pädagogisch plausible Begründung gibt. Diese Regelung ist vor gut 100 Jahren lediglich aus einem politischen Schulkompromiss im Reichsgrundschulgesetz hervorgegangen.

Das Versteckspiel beenden – den Koalitionsvertrag erfüllen!

Seit der Implementation des Schulversuchs 2013 bzw. 2014 haben die wechselnden Landesregierungen unter rot-grüner, schwarz-gelber und schwarz-grüner Beteiligung nichts unternommen, um das innovative Schulmodell mit seiner Zielsetzung und seinen Erfolgen öffentlich bekannt zu machen.

Selbst unter Bildungsexpert:innen ist das Projekt erstaunlich unbekannt. Dabei hat die wissenschaftliche Begleitung von Anfang an dafür geworben, Erkenntnisse aus dem Schulversuch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, „um die Sichtbarkeit des Schulversuchs zu erhöhen und Impulse für neue Standorte zu geben“.

Der Schulversuch ist nicht mit dem Auftrag gestartet, „die Vielfalt an schulischen Bildungsangeboten weiterhin zu ergänzen“ und „individuelle Bildungsverläufe zu sichern“, wie das im Gesetzentwurf anklingt. Er hat den Auftrag herauszufinden, ob durch den Zusammenschluss von Primarstufe und Sekundarstufe I innerhalb einer Schule „die Chancengerechtigkeit und die Leistungsfähigkeit des Schulwesens erhöht werden und die Schülerinnen und Schüler dadurch zu besseren Schulabschlüssen geführt werden können“.

Allein daran sind die Ergebnisse zu messen – und dazu schweigt der Gesetzentwurf. Er verschweigt das Potenzial, das in den PRIMUS-Schulen steckt, und will möglichst geräuschlos Fakten ohne Aufklärung und Beteiligung der kommunalen Schulträger, der Eltern- und Lehrerschaft schaffen. Den Verbänden, die jetzt zum Gesetzentwurf Stellung beziehen sollen, liegt der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung ebenso wenig vor wie dem Schulausschuss des Landtags. Er wird gerade im Schulministerium „aufbereitet“.

Martina Lilla-Oblong, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Ruhrparlament, legt den Finger in die Wunde, wenn sie zum Verfahren kritisch bemerkt: „Wir haben noch nicht einmal diskutieren können, welche Chancen die PRIMUS-Schule den Schulträgern in unserer Metropolregion für die Schulentwicklungsplanung eröffnen könnte, da soll schon per Gesetz die Möglichkeit weiterer Gründungen ausgeschlossen werden.“

Es ist an der Zeit, die Landesregierung daran zu erinnern, was sie 2022 in der Koalitionsvereinbarung mit dem hochtrabenden Titel „Zukunftsvertrag“ versprochen hat: „Wir werden nach erfolgreicher Evaluation des Schulversuchs die PRIMUS-Schulen schulrechtlich absichern. Neue PRIMUS-Schulen bedürfen einer regionalen Abstimmung.“ Auf diese großen Worte müssen nun endlich Taten folgen!

Brigitte Schumann     10/2025