Die Ergebnisse des wissenschaftlichen Prüfauftrags zeigen: Vermutlich wurde Tausenden Kindern in amtlichen Feststellungsverfahren in NRW zu Unrecht ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. Die Politik schweigt dazu bisher.
Die aktuelle nordrhein-westfälische Landesregierung hat im Jahr 2023 – nicht zuletzt unter dem langjährigen Druck des Landesrechnungshofs – den wissenschaftlichen Prüfauftrag vergeben. Die Ergebnisse des Gutachtens sind seit April 2024 in einer Kurz- und Langfassung für jeden im Internet einsehbar.
Systemische Eigeninteressen vs. Interessen des Kindes
Die Zahl der Schüler:innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Förderung ist innerhalb von zehn Jahren von 128.000 auf 158.000 angestiegen. Basierend auf der Auswertung des Forschungs- und Diskussionsstands, der Experteninterviews und der Analyse sonderpädagogischer Feststellungsgutachten kommt die Untersuchung in der systemischen Gesamtbetrachtung zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Anstieg der Förderquoten kann nicht hinreichend mit dem Anstieg des Förderbedarfs auf Seiten der Schüler:innen erklärt werden.
Als zentrale Ursache für den Anstieg der Förderquoten identifiziert die Untersuchung die systemischen Problemlagen der allgemeinen Schulen. Sie legt dar, dass das Feststellungsverfahren vermehrt zur schulischen Entlastung und zur Ressourcenbeschaffung in prekären schulischen Situationen dient, da an die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs Ressourcen gebunden sind. Diese Motive bestimmen die Einleitung des Verfahren, die sonderpädagogische Begutachtung und den Ausgang des Verfahrens. 95 Prozent der Gutachten werden so bewilligt, wie sie beantragt werden.
In den sonderpädagogischen Gutachten werden systemische Probleme einseitig individualisiert. Sie werden „als individuelle Probleme bei den Schülerinnen und Schülern verortet und entsprechend dokumentiert. Umweltseitige und insbesondere schulseitige Faktoren finden mit ihrem Einfluss auf die Problemlagen demnach (fast) keine Berücksichtigung in den AO-SF-Gutachten und bleiben weitestgehend unsichtbar“. Für die Betroffenen ergeben sich daraus schwerwiegende Folgen für ihre Lern- und Lebensbiografien.
Die Rolle der sonderpädagogischen Diagnostik
Dass sich die sonderpädagogische Diagnostik selbst als „Konstrukteur“ und „Produzent“ des sonderpädagogischen Förderbedarfs betätigt und die Quote des sonderpädagogischen Förderbedarfs damit willkürlich hochtreibt, hat Prof. Hans Wocken in empirischen Studien schon früher dargelegt (2017, 2019, 2024) – und dabei auch das Eigeninteresse der Sonderpädagogik am Erhalt der Förderschule und an der Ausweitung ihrer Zuständigkeit herausgestellt.
Nach seinen Berechnungen erklärt sich der Anstieg der Inklusionsquoten nicht mit dem entsprechenden Abbau der Segregationsquoten in den Förderschulen. Vielmehr sieht er steigende Förderquoten als Ursache, die mittels vermehrter Etikettierung und Kategorisierung von schulleistungsschwachen Grundschulkindern als „sonderpädagogisch förderbedürftig“ in sonderpädagogischen Feststellungsverfahren erreicht werden.
Schweigen zum individuellen Unrecht
Wenn Schulministerin Dorothee Feller über die Gutachten spricht, wie zum Beispiel in ihrer Pressemitteilung zu deren Veröffentlichung, dann stellt sie als bildungspolitische Zielperspektive die Qualitätsverbesserung und Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung heraus. Sie schweigt jedoch zu dem Unrecht und dem Schaden, der vermutlich Tausenden von Kindern durch falsche Diagnosen zugefügt worden ist.
Die Zuschreibung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist die früheste und tiefgreifendste Form schulischer Leistungsselektion, die überwiegend Kinder in sozialer Benachteiligung und Armut betrifft (vgl. Eberwein 1994, Becker 2015). Die daran gebundenen identitätsbeschädigenden Effekte der Diskriminierung und Stigmatisierung sind ebenso eindeutig nachgewiesen wie das damit verbundene Risiko der sozialen Segregation in Sondereinrichtungen (Wrase 2020, Steinmetz et al. 2022). Mit der kategorialen Zuordnung zu den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung geht zudem eine Verringerung des Bildungsangebots für diese Kinder einher, die den Erwerb eines Schulabschlusses und den Zugang zu einer beruflichen Ausbildung erschwert bzw. verhindert.
Die Ministerin erkennt zwar auf der abstrakten Ebene an, dass die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Leben eines Kindes eine wichtige Rolle spielt, „so dass allein deswegen die Ansprüche an das Verfahren hoch sein sollten“. Aber diese Aussage ist kein Ersatz für die notwendige Entschuldigung für das in amtlichen Feststellungsverfahren begangene Unrecht. Auch nach der Presseerklärung von Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Elternvereins mittendrin e.V., hat die Schulministerin nicht die Größe gezeigt, auf die Gruppe der Betroffenen zuzugehen.
Schweigen zum Ausbau der Förderschulen
Als Folge der vermehrten Etikettierung sind die schulischen Bedarfszahlen für den sonderpädagogischen Förderbedarf in den Kommunen in die Höhe getrieben worden. Das gilt neben den Förderschwerpunkten Lernen und Emotionale und soziale Entwicklung auch für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung.
Das sogenannte Elternwahlrecht, das die Politik auch in NRW gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention schulrechtlich eingeführt hat, ist angesichts des Lehrkräftemangels in den Grundschulen und der im Vergleich zu den Förderschulen schlechteren Ausstattung faktisch zu einem Scheinwahlrecht mutiert. Das belegen die steigenden Anmeldungen zu den Förderschulen. Die kommunalen Schulträger reagieren auf die Nachfrage mit dem Neu- und Ausbau von Förderschulen und berufen sich auf den schulrechtlich verankerten Elternwillen. Auf diese Weise wird der Ausbau segregierender Strukturen konventionswidrig vorangetrieben.
Die Landesregierung müsste die politisch verursachten Fehlentwicklungen dringend stoppen, die Kosten für den Ausbau aussondernder Strukturen in die qualitative Verbesserung inklusiver Regelschulangebote umlenken und mit dem gezielten Abbau des Förderschulsystems den Ressourcentransfer in die Grundschulen ermöglichen. Aber von politischem Handlungsbedarf in diesem Bereich will die Ministerin nichts wissen.
Aus dem Schulministerium heißt es am 18. Juli auf eine diesbezügliche Presseanfrage: „Das nordrhein-westfälische Schulgesetz benennt in der Regel die allgemeine Schule als Ort der sonderpädagogischen Förderung. Davon abweichend können Eltern für ihre Kinder aber auch die Förderschule wählen. Ausreichend Schulplätze vorzuhalten, ist in Nordrhein-Westfalen eine Aufgabe der Schulträger. Ihre Entscheidungen, Schulplätze auch an Förderschulen vorzuhalten, richtet sich nach den Schulentwicklungsplänen.“
Schweigen zur kurzfristigen Schadensbegrenzung
Auf die Frage, wie man sicherstellen will, dass es nicht zu weiteren Fällen falscher Diagnosen kommt, lässt das Ministerium wissen: „Einstweilen gilt: Das nordrhein-westfälische Feststellungsverfahren gemäß der sogenannten Ausbildungsordnung für die sonderpädagogische Förderung (AO-SF) orientiert sich an den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) und setzt diese auf landesgesetzlicher Ebene um. Ein auf diesem Wege festgestellter sonderpädagogischer Feststellungsbedarf wird mit umfassenden Ressourcen für die Förderung dieser Schülerinnen und Schüler hinterlegt, um den speziellen individuellen Bedarfen dieser Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Das Feststellungsverfahren dient dazu, diese besondere Unterstützung gezielt jenen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Verfügung zu stellen. Alle, die an diesem Verfahren beteiligt sind, wissen um die Tragweite ihrer Entscheidungen und handeln entsprechend sorgfältig.“
Das klingt wie bittere Ironie angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse. „Zumindest muss kurzfristig in allen Fällen, in denen es keine medizinische Diagnose einer Behinderung gibt, die Schwelle für die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erheblich höher gelegt werden“, fordert Eva-Maria Thoms zurecht.
Politische Verantwortungsübernahme gefragt
Falsche Diagnosen und die dadurch verursachten Schäden lassen sich schwerlich rückgängig machen. Aber das politische Beschweigen des Unrechts und der daraus resultierenden Folgen ist vor allem für die Betroffenen schwer erträglich und empörend.
Die Regierungsfraktionen und die demokratische Opposition im Landtag sind gefragt, sich endlich ohne Scheuklappen um die Probleme zu kümmern, die mit dem Gutachten auf den Tisch gelegt worden sind.
Brigitte Schumann 8/2024