Zwei starke zivilgesellschaftliche Initiativen fordern die Bundespolitik auf, die UN-Behindertenrechtskonvention Demokratiemenschenrechtskonform umzusetzen,   Inklusion als demokratisches Grundprinzip gesellschaftlich zu verankern und sozialen Zusammenhalt und gleichberechtigte Teilhabe zu stärken – bisher ohne Antwort.

Vor 15 Jahren hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) völkerrechtlich verpflichtet, gesellschaftliche Barrieren einzureißen, die Menschen mit Behinderungen an umfassender Partizipation und Inklusion hindern. An die Stelle von institutionalisierter Sonderbehandlung in der Segregation und Exklusion soll inklusive Gleichheit bei anerkannter Unterschiedlichkeit in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens treten.

Inklusion – Schutz der Demokratie und der Menschenrechte

Mit der Anerkennung der Konvention als Menschenrechtskonvention hat Deutschland auch die völkerrechtliche Verpflichtung übernommen, Inklusion zu einem Grundprinzip der Demokratie zu machen. Was für Menschen mit Behinderungen gelten soll – dass sie nämlich bei Anerkennung ihrer besonderen Bedarfe gleichberechtigt in der Gesellschaft leben –, muss für alle anderen Menschen mit ihren besonderen Bedarfen gleichermaßen gelten.

Bedeutung und Wert von Inklusion für die Demokratie und das Zusammenleben der Menschen lassen sich an der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland ablesen. Zunehmende soziale Ungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten Ideologien der Ungleichheit und Menschenfeindlichkeit den Boden bereitet und die soziale Spaltung in der Gesellschaft vertieft. Demokratiefeindliche Tendenzen sind bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen, wie Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung nachweisen.

Die Erfolge der AfD bei Wahlen sind eine unübersehbare Warnung, wie gefährdet Demokratie und Menschenrechte bei einem fortgesetzten Mangel an gesellschaftlicher Inklusion sind.     

Deutschland in der Staatenprüfung

Die Bundesregierung hat die UN-BRK als völkerrechtlichen Vertrag mit all seinen Verpflichtungen abgeschlossen. Sie ist damit für die konventionskonforme Umsetzung verantwortlich und gegenüber dem UN-Fachausschuss (CRPD), der die Umsetzung der Konvention in allen Vertragsstaaten überwacht, auch in einem festgelegten Staatenberichtsverfahren rechenschaftspflichtig.

Nach 2015 hat die Bundesregierung im August 2023 zum zweiten Mal dem Genfer Ausschuss Rede und Antwort stehen müssen. Grundlage der mündlichen Aussprache des Ausschusses mit Vertreter:innen der Bundesregierung waren der offizielle Staatenbericht Deutschlands und Parallelberichte der Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) sowie Eingaben aus der Zivilgesellschaft.

Zum zweiten Mal wurden der Bundesregierung in den nachfolgenden Empfehlungen des Ausschusses (Concluding Observations) ein unzureichendes Verständnis von Inklusion und schwerwiegende Defizite in der Implementierung von Inklusion bescheinigt. Besonders deutlich fiel die Kritik zu Artikel 24 UN-BRK, inklusive Bildung, aus. Auch auf ihre Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme für die Gewährleistung der Konventionsziele wurde ausführlich eingegangen.

Bündnis "Inklusive Bildung Jetzt"

Klare Ansagen des zuständigen UN-Ausschusses an die Adresse der Bundesregierung haben im Oktober 2023 die Initiative „Inklusive Bildung Jetzt“ ermutigt, mit gemeinsamen Forderungen an die Öffentlichkeit zu gehen: Auf Initiative des Elternvereins mittendrin e. V. haben mehr als 140 Organisationen und mehr als 1400 Einzelpersonen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Bildungspraxis in einem Offenen Brief an Bundesminister Heil (BMAS) und Bundesministerin Stark-Watzinger (BMBF) dringenden Handlungsbedarf für inklusive Bildung gegenüber der Bundesregierung geltend gemacht. Die Unterschriften wurden am 10.10.2023 in Berlin den Ministerien übergeben.  

Die Initiative fordert von der Bundesregierung die Gewährleistung umfassender Aktionspläne für den beschleunigten Übergang von Förderschulen zu inklusiver Bildung und einer einheitlichen Umsetzung von Artikel 24 UN-BRK in den Ländern, eine offensive Vertretung der Konventionsziele auf allen Ebenen von Politik und Verwaltung und die Durchführung einer bundesweiten Aufklärungskampagne zu Inklusion als Menschenrecht.

Seit dem 10. Oktober 2023 liegen nun die Forderungen den Bundesministerien für Arbeit und Soziales sowie Bildung und Forschung vor. Drei Monate hatten die Ministerien Zeit für eine in der Bunderegierung abgestimmte Antwort. Aber es gibt keine Antwort, keine Stellungnahme zu dem Anliegen und nicht einmal eine Eingangsbestätigung des Schreibens. Die Bundesregierung hat inzwischen Hubert Hüppe MdB auf seine parlamentarische Frage hin bestätigt, dass sie nicht die Absicht hat, den Offenen Brief zu beantworten. Sie begründet ihr Verhalten mit der Nichtzuständigkeit für Bildung.

Grobe Missachtung zivilgesellschaftlichen Engagements    

Den beiden Minister:innen Arroganz der Macht im Umgang mit der zivilgesellschaftlichen Initiative vorzuwerfen, erfasst den eigentlichen politischen Skandal nicht. Auf die lautstarken Proteste der Bauern gegen Maßnahmen, die diese als Bedrohung ihrer eigenen wirtschaftlichen Existenz ansehen, hat die Bundesregierung schnell reagiert. In der Initiative „Inklusive Bildung Jetzt“ engagieren sich mehr als 140 anerkannte Verbände und viele Einzelpersonen nicht für ihren eigenen Profit, sondern für die Rechte von Menschen, die immer noch von gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind. Ihr Anliegen wird von der Bundesregierung komplett ignoriert und totgeschwiegen. Dazu passt, dass das BMAS die Übersetzung der Empfehlungen des UN-Fachausschusses ins Deutsche mit fadenscheinigen Argumenten verzögert.   

Schwere Pflichtverletzung der UN-BRK

Mit dem Schreiben der Initiative an die beiden Minister:innen ist die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert. Das Schweigen macht deutlich, dass die Bundesregierung trotz der neuerlichen Ermahnung des Fachausschusses sich weiterhin weigert, die Gesamtverantwortung für die Umsetzung der Konvention im Bildungsbereich zu übernehmen.

Dabei hatte schon 2015 der UN-Fachausschuss in seinen Empfehlungen zum ersten Staatenbericht Deutschlands festgestellt, dass sich der Bund nicht mit Verweis auf den Föderalismus aus seiner Gesamtverantwortung für die Umsetzung der UN-BRK zurückziehen kann.

Auch der Menschenrechtsbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Juli 2021- Juni2022) leitet aus der Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesregierung eine unabweisbare, notwendige Handlungspflicht für den Bund ab. Er müsse „stärkere Anstrengungen unternehmen, um ein inklusives Schulsystem umzusetzen und damit Bildungsbenachteiligungen abbauen“. Er zeigt auch mehrere Lösungen auf, die auf die „Erweiterung der Bundesgesetzgebungskompetenz angelegt sind, ohne die Bildungshoheit der Länder einzuschränken“.

Enquetekommission für gesellschaftliche Inklusion

Die Initiative „Inklusive Bildung Jetzt“ wird nicht aufgeben und weiterhin politischen Druck ausüben. Parallel und ergänzend fordert eine von dem Verein „Politik gegen Aussonderung, Koalition für Integration und Inklusion e.V.“ (PogA) organisierte und koordinierte Initiative, die Einrichtung einer Enquetekommission „Gesellschaftliche Inklusion des Bundestages“.

Um eine ausreichende Zahl an Parlamentariern für dieses Anliegen zu gewinnen, sollen den Abgeordneten des Deutschen Bundestags die Unterschriften zugeleitet werden, die PogA für die Staatenprüfung Deutschlands gesammelt und mit einer Eingabe an den UN-Fachausschuss gesendet hatte. Dass dicke Bretter zu bohren sind, haben bislang gescheiterte Versuche gezeigt, die Regierungsfraktionen der SPD und FDP dafür zu erwärmen.

Aufgabe der Enquete soll es sein, über inklusive Bildung in Artikel 24 hinaus alle gesellschaftlichen Konventionsziele der UN-BRK für die Fragen in den Blick zu nehmen und zu klären, warum die umfassende Transformation zu einer inklusiven Gesellschaft notwendig ist, woran es in der Umsetzung bisher fehlt und wie sie gelingen kann. 

Mit der Überzeugung, dass Demokratie Inklusion braucht, begründet PogA die notwendige Befassung des Bundestags mit dem Thema. Inklusion ist ein Gesellschaftskonzept, das aus der Anerkennung der Menschenwürde und der gleichberechtigten sozialen Zugehörigkeit Aller besteht. Aus der Selbstverpflichtung des Parlaments durch die Ratifizierung der UN-BRK ergibt sich damit die Aufgabe, diesen gesellschaftlichen Entwurf gegen demokratiefeindliche Tendenzen zu realisieren und abzusichern Dazu soll die Enquete mit Analysen und Handlungsempfehlungen dienen.

Zivilgesellschaftliche Kraft

Die gemeinsame Veranstaltung des Bundesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen und des Deutschen Instituts für Menschenrechte unter dem Titel „Neuer Schwung für die UN-BRK in Deutschland“ am 27. 02. 2024 in Berlin verspricht der Ort zu werden, an dem zivilgesellschaftliche Kraft für die Perspektive der inklusiven Gesellschaft gegen politischen Widerstand gesammelt wird. 

Brigitte Schumann                     01/2024

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