1920 wurde im Reichsgrundschulgesetz die vierjährige Grundschule als „die für alle gemeinsame Grundschule“ beschlossen. Das demokratische Gründungsversprechen ist bis heute nicht eingelöst worden. Gesellschaftliche Entwicklungen stellen es zudem in Frage und höhlen es aus.
Mit dem Gesetz vom 28. April 1920 wurde in einem hart umkämpften Schulkompromiss geregelt, dass die vier unteren Jahrgänge der Volksschule „die für alle gemeinsame Grundschule“ darstellen. Private und öffentliche schulgeldpflichtige Vorschulen, die – im tradierten Standesdenken verhaftet – Kinder der höheren Schicht auf den Gymnasialbesuch vorbereiteten, wurden gesetzlich verboten. Ihre endgültige Abschaffung erfolgte jedoch erst 1936.
Abweichend von dem Gründungsversprechen konnten allerdings eigene Schulen für Minderheitengruppen mit nichtdeutscher Muttersprache und konfessionelle Bekenntnisschulen auf Antrag der Erziehungsberechtigten eingerichtet werden. Kinder mit Behinderungen waren vom Besuch der Grundschule ausgeschlossen. Sie besuchten je nach Art ihrer Behinderung an Volksschulen angegliederte Hilfsschulklassen, Hilfsschulen oder Fürsorgeanstalten.
Die historische Bedeutung des Gesetzes
Mit dem Reichsgrundschulgesetz gelang es der Zentrumspartei in den politischen Wirren der Weimarer Republik und angesichts der Zerstrittenheit der linken Reformkräfte, die Einheitsschule sozialdemokratischer Prägung zu verhindern. Diese sollte neben dem dreijährigen Kindergarten eine mindestens sechs- bzw. achtjährige Grundschule umfassen, auf die berufs- und wissenschaftsbezogene Einrichtungen aufbauen sollten.
Auch wenn die Einrichtung der vierjährigen Grundschule insofern als „Torso der Einheitsschule“ bezeichnet werden kann, hat sie dennoch in ihrer Zeit revolutionären Charakter, urteilt Marianne Demmer, ehemalige stellvertretende Vorsitzende der GEW und Mitglied im Hochschulrat der Universität Segen in ihrer historischen Aufarbeitung der Schulreform in Deutschland von 1920 bis 2020.
Über das Reichsgrundschulgesetz stellt sie fest: „Es ist die bislang einzig tiefgreifende schulpolitische Strukturreform im 20. Jahrhundert, die von einer parlamentarischen Mehrheit für ganz Deutschland gegen massive konservative Widerstände durchgesetzt worden ist und bis heute Bestand hat. Sie kann als Beleg dafür dienen, dass es nicht notwendig des gesellschaftlichen Konsenses bedarf, um strukturelle Reformen durchzusetzen.“
Der Mythos der Grundschule
Die Grundschulforschung kommt in ihrer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme nach 100 Jahren Grundschule in Deutschland zu dem Ergebnis, dass das Versprechen der Grundschule, eine Schule für alle Kinder zu sein, auch im 21. Jahrhundert noch nicht eingelöst wurde und insofern als Gründungsmythos zu betrachten ist.
Immer noch gibt es Konfessionsschulen. Immer noch lernen die meisten Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. Behinderungen in segregierten Förderschulen. Immer noch werden Kinder direkt in Förderschulen eingeschult, ohne je die Grundschule kennengelernt zu haben. Ihnen wird das Recht auf gleichberechtigte soziale Teilhabe und auf gleiche Bildungschancen vorenthalten.
Trotz vielfacher pädagogischer Reformbemühungen um eine kindgerechte Grundschule sind Rückstellungen, Ziffernnoten, Klassenwiederholungen, sonderpädagogische Feststellungsverfahren und Schulformempfehlungen weiterhin feste Bestandteile der Grundschulpraxis. Es sind schulorganisatorische Maßnahmen zur Leistungshomogenisierung und Leistungsselektion. Damit werden Kinder unter Leistungsdruck gesetzt und durch Ausgrenzung und Ausschluss aus der Gemeinschaft beschämt und beschädigt.
Sozial segregierte Grundschulentwicklung
Kinder mit privilegiertem Familienhintergrund lernen heute immer seltener gemeinsam mit Kindern aus weniger privilegierten oder gar sozial benachteiligten Familienverhältnissen. Die sozialräumliche Stadtentwicklung hat zu einer zunehmenden sozialen Homogenisierung in den Grundschulen geführt.
Diese Entwicklung unterstreicht Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, wenn er konstatiert: „Mittlerweile ergeben sich sowohl aus der zunehmenden sozialräumlichen Spaltung vieler deutscher Städte als auch aus der sozial ungleichen Verteilung von Schülern an privaten und öffentlichen Schulen Entwicklungen, die das Paradigma von einer Schule für alle Kinder in Frage stellen.“
Private Grundschulen für eine besser gestellte Klientel verschärfen die soziale und ethnische Segregation. Sie übernehmen gewissermaßen in unserer Zeit die Funktion der ehemals ständischen Vorschulen, die das Reichsgrundschulgesetz 1920 gesetzlich verboten hatte. Sie fallen auch hinter die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zurück, die keine Zuteilung von Bildungschancen nach der sozialen und finanziellen Stellung der Eltern vorsah. Verstöße gegen das Grundgesetz, das ebenfalls „eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ verbietet, werden in unserer Zeit offensichtlich bildungspolitisch geduldet.
Die sogenannte freie Grundschulwahl, beispielsweise in NRW, die Eltern nicht mehr dazu verpflichtet, die Grundschule ihres Wohnbezirks für ihr Kind zu wählen, trägt ebenfalls zur Verstärkung der sozialen Trennung in den Grundschulen bei und vertieft die gesellschaftliche Spaltung. Besonderen Gebrauch von der Grundschulwahl machen Eltern mit einem höheren Bildungsstatus, indem sie Schulen mit möglichst geringen Anteilen sozial benachteiligter Kinder aussuchen.
Ungleiche Bildungschancen
Das Gründungsversprechen einer „für alle gemeinsamen Grundschule“ enthält auch das Versprechen auf gleiche Bildungschancen aller Grundschulkinder. Es ist ebenfalls bis heute nicht eingelöst.
Grundschulen in sozialen Brennpunkten starten mit einem hohen Anteil von Kindern, deren Lernausgangslage armutsbedingt mehr Entwicklungsprobleme im Vergleich zu Kindern aus privilegierten Elternhäusern aufweist. Diese Schulen benötigen erheblich mehr finanzielle Ressourcen und mehr Zeit zur individuellen Förderung sowie eine kindorientierte Didaktik, die an die Lebens- und Erfahrungswelt dieser Kinder anschlussfähig ist.
Die dafür notwendige Privilegierung armutssegregierter Grundschulen bei der Verteilung von Ressourcen nach der sozialen Zusammensetzung ihrer Schülerschaft findet jedoch nicht oder nur unzureichend statt. In Zeiten des allgemeinen Lehrkräftemangels leiden sie besonders unter der dramatischen Unterbesetzung an qualifizierten Pädagog:innen und beschäftigen mehr Seiteneinsteiger:innen als Grundschulen in sozial bevorzugten Lagen.
Auch die Grundschule kann sich institutionell nicht freisprechen von dem Mittelschichtbias, der privilegierte Kinder begünstigt, weil sie die basalen Kompetenzen für erfolgreiches schulisches Lernen schon mitbringen. Unter dem Druck standardisierter Leistungsanforderungen und einem ohnehin viel zu knappen Zeitfenster von vier Jahren kommen die individuelle Förderung und die notwendige Vermittlung von Basiskompetenzen zu kurz. So werden schon früh „soziokulturelle Klassenverhältnisse“ reproduziert, vor denen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2019 warnte. In seiner Rede anlässlich des Festakts „100 Jahre Grundschule“ in der Frankfurter Paulskirche forderte er eindringlich: „Wir dürfen nicht zulassen, dass schon in der Vor- und Grundschule Klassenunterschiede entstehen oder sich verfestigen.“
Standardisierte vs. vielfaltsbewusste und inklusive Lernkultur
Seit 2005/06 gelten von der Kultusministerkonferenz beschlossene Bildungsstandards für den Primarbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik. Sie legen fest, welche fächerspezifischen Kompetenzziele Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben sollten. Die jährlichen Vergleichsarbeiten in der Jahrgangstufe 3 (VERA 3) orientieren sich daran und dienen der Überprüfung, inwieweit die Anforderungen an den Schulen erfüllt werden. Mit diesem Verfahren werden nach dem Urteil des Grundschulverbands rigide Normalitätskonstruktionen festgelegt, an die Grundschulkinder angepasst werden. Praxistaugliche und angemessene Lerndiagnosen liefern die Tests nicht, engen aber sehr wohl die pädagogischen Freiräume der Lehrkräfte ein. Eine Bremer Grundschulstudie belegt, wie das Testregime die pädagogische Arbeit beeinträchtigt und Lehrkräfte belastet. Die hohen Leistungserwartungen bildungsambitionierter Eltern, für die nur der Übergang ihres Kindes zum Gymnasium zählt, setzen die Lehrer:innen zusätzlich unter Druck.
Engagierte Grundschulpädagog:innen stellen fest, dass sich die Tendenz eingeschlichen hat, Unterschiede in der Lern- und Leistungsentwicklung, wie sie gerade in der Grundschule üblich sind, als Normabweichung umzudeuten. Dahinter tritt die pädagogische Aufgabe zurück, individuelle Lernbedürfnisse und Potentiale eines jeden Kindes zu erkennen und zu fördern – nach dem Grundsatz: Es ist normal, verschieden zu sein.
Die „Etikettierungsschwemme“ ist Ausdruck dieser Entwicklung. Kinder der Grundschule werden bei Schulleistungsproblemen häufiger zum Objekt sonderpädagogischer Feststellungsverfahren und mit der stigmatisierenden Zuschreibung des sonderpädagogischen Förderbedarfs versehen. Das erfolgt ausgerechnet unter dem Vorzeichen von Inklusion, obwohl diese auf die egalitäre Anerkennung von Vielfalt ausgerichtet ist.
Auch Kitas gehen in Zusammenarbeit mit der Frühförderung verstärkt von bestimmten Annahmen aus, die zukünftige Grundschulkinder aus ihrer Sicht zu erfüllen haben. Sie erzeugen auf diese Weise schon vor der Einschulung „Risikokinder“, die in die Zuständigkeit der Sonderpädagogik gegeben werden.
Das Gründungsversprechen einlösen!
Die Grundschule ist vor gut 100 Jahren lediglich aus einem politischen Schulkompromiss hervorgegangen. Für ihre Begrenzung auf vier Jahre gibt es keine pädagogisch plausible Begründung. Die sozialdemokratische Alternative einer achtjährigen Grundschule scheiterte an dem Herrschaftsanspruch der damaligen Gymnasiallobby und der sie unterstützenden Parteien. Ihr Argument für eine allerhöchstens vierjährige Grundschule, das auch heute noch von den Befürworter:innen des Gymnasiums vorgetragen wird, bestand in der Behauptung eines drohenden Verlustes an Leistungsniveau.
Trotz der vielen Widersprüche hängt der Grundschule der Mythos einer Schule für alle immer noch an. Tatsächlich ist sie jedoch ihrer einstigen revolutionären Idee längst beraubt und in ihrer Substanz geschwächt und ausgehöhlt. Allenthalben wird die „Stärkung der Grundschule“ als bildungspolitisches Ziel ausgerufen. Ganz gleich, welche bildungspolitischen Vorstellungen und Absichten sich damit verbinden, die Zielsetzung greift zu kurz. Für die Erfüllung eines zeitgemäßen Bildungsauftrags, der die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen an demokratischen und menschenrechtlichen Zielen ausrichtet, ist die vierjährige Grundschule angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen keine ausreichend tragfähige Basis für grundlegende Bildung.
Inklusive Langformschulen – das Strukturmodell für die Demokratie
Schon 1996 hat die UNESCO das Lernen, miteinander zu leben, als eine der vier grundlegenden Säulen für die Bildung im 21. Jahrhundert herausgestellt. Mit der weder begabungs- noch leistungsgerechten sozialen Auslese und Aufteilung auf unterschiedlich anspruchsvolle Schulformen nach lediglich vier Grundschuljahren wird diese Zielsetzung konterkariert. Die Grundschule reproduziert in einem selektiven Schulsystem „soziokulturelle Klassenunterschiede“ und trägt zur Verfestigung der gesellschaftlichen Ungleichheit und Spaltung bei.
Um den gesellschaftlichen Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten, den die Agenda 2030 der Vereinten Nationen zum Erhalt des Planeten und eines menschenwürdigen Lebens für alle verlangt, braucht es eine inklusive Schule für alle mit einem durchgängigen Lernen ohne Brüche, Abtrennung und Aussonderung. Mindestens bis zum Ende der Vollzeitschulpflicht von Klasse 1 bis Klasse 10. Damit wird Deutschland erst anschlussfähig an die internationale Schulentwicklung.
Die Berliner Gemeinschaftsschulen (Klasse 1-10 bzw. 1-13) und die PRIMUS-Schulen in NRW (Klasse 1-10) sind schulform- und schulstufenübergreifende Langform-Schulmodelle, die als Schulversuche erfolgreich erprobt worden sind bzw. noch erprobt werden. Sie sind konzeptionell von dem Geist einer Schule für alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Merkmalen geprägt. Das große Zeitfenster für das gemeinsame Lernen ermöglicht, die unterschiedlichen Lernverläufe und -entwicklungen von Schüler:innen pädagogisch sensibel zu begleiten und inklusiv zu gestalten.
Sie beweisen, dass der Verzicht auf Leistungshomogenisierung und Leistungsselektion sowie die Anerkennung und Förderung individueller Lernentwicklung im gemeinsamen und individualisierten Lernen allen Kindern erhebliche Lernfortschritte garantiert. Mit der weitgehenden Entkopplung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft wirken diese Schulen der Bildungsbenachteiligung entgegen und sind ein fundamentaler Beitrag zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Wie Stähling und Wenders in ihrer Buchveröffentlichung aus eigenen pädagogischen Erfahrungen darlegen, ist die PRIMUS-Schule ein solidarisches Modell, das Kinder mit Armutserfahrung und Migrationsgeschichte besonders stärkt.
Überfällige Demokratisierung des Schulsystems
Noch sind diese Modelle in Deutschland eine Ausnahme. Noch fehlt der Bildungspolitik der Wille, diese Modelle flächendeckend zu realisieren und das Schulsystem zu einem inklusiven, demokratischen und zukunftsfähigen System umzubauen. Noch hat sich die Einsicht nicht durchgesetzt, dass „das Schulwesen vor allem gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat, und nicht der Privilegiensicherung herrschender und einflussreicher gesellschaftlicher Schichten dient“, so Marianne Demmer. Daher bedarf es zivilgesellschaftlicher Initiativen und Bündnisse für den grundlegenden schulischen Systemwechsel. Das Bündnis „Eine für alle – die inklusive Schule für die Demokratie“ setzt sich für dieses Ziel ein.
von Brigitte Schumann 05/2022