von Brigitte Schumann
Die Kultusministerkonferenz (KMK) feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. Den Willen zu selbstkritischer Auseinandersetzung mit ihrer bildungspolitischen Vergangenheit und deren Folgen bringt sie jedoch nicht auf. Eine Kritik
Sie macht sich damit unglaubwürdig. Von einer Organisation, die behauptet, Demokratie- und Menschenrechtsbildung in den Schulen stärken zu wollen, darf man mit Fug und Recht erwarten, dass sie ihren eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nachkommt. Dafür müsste sie aber endlich die „Allianz des Verschweigens“ politisch aufkündigen, die sie nach 1945 mit der Sonderpädagogik und deren Fachverband eingegangen ist.
Die historische Lüge
Mit der historischen Lüge von der Hilfsschule als Opfer des Nationalsozialismus konnte die Sonderpädagogik in Westdeutschland nach 1945 den Auf- und Ausbau des Sonderschulwesens als Akt der „Wiedergutmachung“ an der Hilfsschule mit einer willfährigen KMK durchsetzen. Gemeinsam verschwiegen wurden Verbrechen an Menschen, die unter institutioneller Beteiligung der Hilfsschule als Sonderschule Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie wurden.
Diese Geschichtsfälschung entsprach ganz dem politischen und gesellschaftlichen Bedürfnis nach „Neuanfang“ und Entlastung von Schuld. Mit dem formelhaften Bekenntnis zur „Schuld des deutschen Volkes“ stellte sich auch die KMK schützend vor die Strafverfolgung konkreter Personen und Berufsgruppen. Die historische Lüge wurde zum Fundament für ein weltweit einzigartiges hochsegregiertes Sonderschulsystem, das die KMK und die Sonderpädagogik gegen alle demokratischen Reformbemühungen im 20. Jahrhundert erfolgreich verteidigten. Heute setzen beide das System sonderpädagogischer Förderung zur Verhinderung eines menschenrechtsbasierten inklusiven Schulsystems ein.
Die frappierende inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Verbandsforderungen und den sich daran anschließenden KMK -Grundsatzentscheidungen zur sonderpädagogischen Entwicklung belegt, dass der Verband der Blaupausen-Lieferant für das Handeln der KMK war und es immer noch ist.
Die langen Schatten der Gründungsjahre
Mit dem Auf- und Ausbau des Sonderschulsystems in den 1950er und 1960er Jahren, in dessen Zentrum die Hilfsschule stand, wurde die nationalsozialistische Rassenideologie zwar abgelegt, aber geschichtsbelastete Konstruktionen und Strukturen der Sonderpädagogik wurden politisch übernommen. Das „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“ der KMK von 1960 legte in Übereinstimmung mit dem damaligen Verband den Grundstein für sonderpädagogische Kontinuitäten, die bis in unsere Zeit hineinwirken. Dazu zählt die Zwangsverpflichtung zum Besuch der Sonderschule, die erstmals im Reichsschulpflichtgesetz von 1938 für Kinder und Jugendliche gesetzlich vorgeschrieben wurde, die „dem allgemeinen Bildungsweg der Volksschule nicht oder nicht mit genügendem Erfolge zu folgen vermögen“.
Verschwiegene historische Zusammenhänge machen bis heute das Unrecht möglich, dass sozial benachteiligte Kinder mit schulischen Lern- und Leistungsproblemen in Sonderschulen segregiert werden. Die im Nationalsozialismus eingeführte sonderpädagogische Konstruktion der „Hilfsschulbedürftigkeit“ heißt heute „Lernbehinderung“. Die Zufälligkeit und Willkürlichkeit, mit der Kinder als „lernbehindert“ etikettiert und dem Förderschwerpunkt Lernen durch sonderpädagogische Diagnostik zugeordnet werden, sind ebenso empirisch nachgewiesen wie die nachhaltige Beschädigung der davon Betroffenen.
Die 1970er Jahre
Der Deutsche Bildungsrat legte 1973 seine „Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ vor. Darin forderte er „eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten“. Die KMK kam dieser Empfehlung mit ihrer „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“ von 1972 zuvor, die bis 1994 Geltung hatte. Darin stellte sie mit Rückgriff auf das im nationalsozialistischen Kontext benutzte Entlastungsargument fest: „Für die Beibehaltung eigenständiger Sonderschulen spricht die Notwendigkeit, eine angepaßte Hilfe für behinderte Schüler zu geben und gleichzeitig die allgemeinen Schulen von Schülern zu entlasten, denen sie nicht gerecht werden kann.“
Die 1980er Jahre
Diese Zeit stand im Zeichen der Elternbewegung für Gemeinsamen Unterricht, die sich 1985 in Bonn zur Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“ e.V. zusammenschloss. Sie erzwang in etlichen Bundesländern Schulversuche zum Gemeinsamen Unterricht. Damit konnte erstmals auch in Deutschland belegt werden, dass Gemeinsames Lernen für alle Kinder vorteilhaft ist. Die KMK und die Kultusministerien der Länder sahen in den Schulversuchen dagegen eine Möglichkeit, die Integration unter ihrer Kontrolle zu halten und politische Grundsatzentscheidungen auf die lange Bank zu schieben.
Die 1990er Jahre
Das wegweisende menschenrechtliche Modell von Inklusion wurde in der Erklärung von Salamanca auf der UNESCO Weltkonferenz 1994 in Spanien verabschiedet. Die KMK und die Sonderpädagogik gingen schweigend darüber hinweg. Statt die von der Konferenz geforderte grundsätzliche Strukturreform ohne Aussonderung anzupeilen, eröffnete die KMK mit ihren „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung“ 1994 der Sonderpädagogik flexible Möglichkeiten. Der „sonderpädagogische Unterstützungsbedarf“ sollte nicht mehr ausschließlich an den Ort der Sonderschule gebunden sein, sondern nach Entscheidung der Schulbehörde auch in der allgemeinen Schule erfüllt werden können.
Widerstand gegen die UN-BRK
Mit ihren beiden Grundsatzbeschlüssen von 2010 und 2011 hat die KMK sich gegen Empfehlungen der Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte gestellt und den Forderungen der UN-BRK „die Zähne gezogen“. Sie hat sich im Interesse der Sonderpädagogik und im Schulterschluss mit ihr dafür entschieden, dass die Umsetzung der UN-BRK eine massive Ausweitung der sonderpädagogischen Lernorte, Arbeitsfelder und Kompetenzen, aber keine tiefgreifenden strukturellen und pädagogischen Konsequenzen im Sinne eines Abbaus von Selektion und Segregation nach sich zieht.
KMK und Sonderpädagogik verschweigen, dass Inklusion ein Recht aller Kinder ist, das nur umgesetzt werden kann, wenn das Schulsystem als Ganzes zu einer Schule für alle Kinder transformiert wird. Das Verschweigen entspricht dem Interesse beider Bündnispartner. Mit der Verengung der menschenrechtlichen Dimension von inklusiver Bildung auf die Gruppe der Menschen mit Behinderungen erhält die Sonderpädagogik den Sonderstatus der Unverzichtbarkeit für die Inklusion in Schulen und für das Sonderschulsystem. Die Bildungspolitik kann sich mit dem verfälschten Inklusionsmodell lästigen Strukturfragen entziehen und dem allgemeinen Schulsystem ihre „Inklusion“ aufpfropfen.
Mit dem Elternwahlrecht, das sie jahrzehntelang strikt ablehnten, begründen KMK und Sonderpädagogik heute die Aufrechterhaltung eines kostspieligen und ineffizienten Sonderschulsystems. Diese politisch motivierte Konstruktion entzieht den allgemeinen Schulen notwendige personelle Ressourcen für die inklusive Schulentwicklung. Die durchgängig spürbare Unterfinanzierung ist zu einem wesentlichen Grund für die massive Ablehnung von Inklusion in den Schulen und in der öffentlichen Meinung geworden.
Boykott des UN-Fachausschusses
Seit dem 2. September 2016 gibt es die Allgemeine Bemerkung Nr. 4 zum Recht auf inklusive Bildung. Es ist eine nicht rechtsverbindliche, aber international anerkannte maßgebliche Interpretation des zuständigen UN-Fachausschusses zur Umsetzung von inklusiver Bildung. Die KMK hatte vor Verabschiedung des Dokuments vergeblich versucht, die Anerkennung des Elternwahlrechts darin durchzusetzen. Die Kernaussagen der Allgemeinen Bemerkung zeigen, dass die KMK mit ihrer Auslegung den menschenrechtlichen Gehalt der UN-BRK verfälscht. Die Allgemeine Bemerkung liegt inzwischen auch in einer amtlichen deutschen Übersetzung vor, aber ihr Inhalt wird von der KMK konsequent verschwiegen und ignoriert. Inklusive Bildung ist politisch nicht gewollt.
Gesellschaftlicher Handlungsbedarf
Die bildungspolitisch und sonderpädagogisch betriebene Verfälschung und Diskreditierung von Inklusion hat fatale Folgen über die Schule hinaus. Inklusion wird daran gehindert, als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu den gefährlichen Tendenzen gesellschaftlicher Spaltung, Ausgrenzung und Exklusion wirksam zu werden. Um die harten politischen und gesellschaftlichen Widerstände gegen Inklusion zu überwinden, bedarf es daher neben einer menschenrechtlich ausgerichteten politischen Bewegung auch einer Aufarbeitung der Geschichte der Sonderpädagogik, die sich als Aufarbeitung deutscher Geschichte begreift.