Eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat beschlossen, die Verfassungsbeschwerde einer alleinerziehenden Mutter und deren Tochter nicht anzunehmen. Sie hatten gegen den erzwungenen Förderschulbesuch und die Verweigerung des Rechts auf inklusive Bildung geklagt.

Mutter und Tochter sahen sich 2020 gezwungen, den Gang nach Karlsruhe anzutreten. Auf Antrag des Jugendamtes in Rheinland-Pfalz hatte das Amtsgericht der Mutter Teile des Sorgerechtes entzogen und auf das Jugendamt übertragen, weil sie mit ihrem Wunsch nach inklusiver Beschulung das Wohl ihres Kindes gefährde. Das Oberlandesgericht hatte den Einspruch der Mutter gegen das Urteil abgewiesen und damit den Weg für das Jugendamt frei gemacht, die Umschulung aus der Regelschule in eine Förderschule vorzunehmen.

Die Kammer, bestehend aus drei Richter*innen, hat am 14.10. in ihrer Begründung die vorangehenden Tatsachenfeststellungen und Bewertungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts ungeprüft übernommen. Geprüft wurde nur, ob Verfahrensfehler vorliegen.

Für die Richter*innen steht damit fest: Der Teil-Sorgerechtsentzug ist nicht zu beanstanden. Mit ihrer Forderung nach inklusiver Beschulung habe die Mutter ihre Tochter maßlos überfordert und ihre eigenen ehrgeizigen Bildungsziele über das Kindeswohl gestellt. Sie habe zwar den Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung, nicht aber im Lernen anerkannt. Mit ihrem uneinsichtigen Beharren auf zielgleiches Lernen in der allgemeinen Schule habe sie nicht erkennen wollen, dass die Förderschule nach Einschätzung der beteiligten Schule, Ämter und Gerichte der richtige Förderort für die Tochter sei.

Wie die beiden anderen Justizinstanzen ignoriert auch die Kammer des BVerfG, dass es sehr wohl stichhaltige Gründe für die Ablehnung des Förderbedarfs Lernen gibt, der im Alltag unter dem Begriff der „Lernbehinderung“ geführt wird. Das Etikett „lernbehindert“ ist ein Stigma und verschlechtert nachweislich die Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erheblich.

Umstrittene Diagnose

Auch innerhalb der Bildungswissenschaft gilt die Diagnose „Lernbehinderung“ schon lange als höchst umstritten und überflüssig, weil zwischen einem pädagogischen und einem sonderpädagogischem Förderbedarf keine klare Abgrenzung möglich ist. Historisch lässt sich die Unschärfe der „Lernbehinderung“ damit erklären, dass sie ihre Wurzeln in dem pseudowissenschaftlichen und zudem geschichtsbelasteten sonderpädagogischen Konstrukt der „Hilfsschulbedürftigkeit“ hat.

Die Richter* innen lassen zudem den für die Mutter relevanten Aspekt völlig außer Acht, dass nach rheinland-pfälzischem Schulrecht, Kindern mit dem sonderpädagogischen Förderstatus Lernen ein regulärer Schulabschluss verwehrt ist, selbst wenn sie eine Regelschule besuchen. Dagegen wehrte sich die Mutter, nicht gegen eine zusätzliche pädagogische Förderung ihrer Tochter.

Die Kammer hätte überdies fragen müssen, warum die Schulbehörde nach Feststellung des Förderbedarfs nicht handelte und dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Mutter und Schule tatenlos zuschaute, da doch die Feststellung des Förderstatus nach geltendem Schulrecht nicht an die Zustimmung der Eltern geknüpft ist.

Fragwürdiges kinderschutzrechtliches Verfahren

Die Karlsruher Richter bestätigen mit ihrer Entscheidung die Rechtmäßigkeit des Teil- Sorgerechtsentzugs als kinderschutzrechtliche Maßnahme. Die Entscheidung sei nicht abgeleitet aus der Behinderung der Tochter, sondern aus dem Verhalten der Mutter, das die Übernahme der staatlichen Schutzpflicht für das Wohl des Kindes notwendig mache. Eventuelle strukturelle Mängel im Schulwesen, in der Lehrerausbildung und in der sächlichen Ausstattung der Schule, die zur Erklärung der Kindeswohlgefährdung von den Beschwerdeführerinnen angeführt würden, könnten in dem kinderschutzrechtlichen Verfahren nicht untersucht werden, so die Richter*innen.

Mit dieser Argumentation entziehen sie sich auch dem von den Beschwerdeführerinnen dringend angemahnten Klärungsbedarf. Sie wollen unter Beachtung des Grundgesetzes und Berücksichtigung der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) geklärt wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Verweigerung des Förderschulbesuchs als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden kann.

Die Klägerinnen können überzeugend darlegen, dass es im Rechtsstreit nur vordergründig um das Kindeswohl geht. Das Jugendamt und die Fachgerichte begründen die Notwendigkeit des Eingriffs in das elterliche Sorgerecht mit der Weigerung der Mutter, einer Umschulung in die Förderschule zuzustimmen. Mit dem Schulwechsel zur Förderschule sollte ganz eindeutig ein schulischer Konflikt im Interesse von Jugendamt und Schule zu Lasten von Mutter und Tochter gelöst werden.

Das Jugendamt als Akteur gegen Inklusion

Der Kammerbeschluss erwähnt nicht, dass das Jugendamt schon zu Beginn der Grundschulzeit wusste, dass die Förderschule der richtige Ort für das Kind ist. Nach einem Jahr stellte es die Gewährung der Integrationshilfe mit der Begründung ein, dass „aus Sicht des Jugendamtes und aller beteiligten Institutionen eine weitere Beschulung im Regelsystem nicht dem Wohl des Kindes entspricht“.

Die Strategie der Verweigerung angemessener Vorkehrungen zur Sicherung sozialer Teilhabe im Unterricht und am Schulleben setzte das Jugendamt auch in der weiterführenden inklusiven Schwerpunktschule fort, einer Realschule Plus, und trug damit zur Eskalation des schulischen Konflikts bei. Wegen der verweigerten Integrationshilfe wurde die Schülerin über drei Jahre nur in Teilzeit für drei Schulstunden pro Tag unterrichtet. Als die Schule befand, die Jugendliche nicht fördern zu können, und das Jugendamt um eine Überprüfung des Kindeswohls bat, beantragte es den vollständigen Sorgerechtsentzug beim Amtsgericht. Es bekam mit dem Teilentzug der elterlichen Sorge die Möglichkeit, die Umschulung zur Förderschule zu realisieren, da auch der Einspruch beim Oberlandesgericht scheiterte.

Intervention aus Genf

Den Beschwerdeführerinnen gelang es mit ihrer Petition, zwei Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen mit der Zuständigkeit für das Recht auf Bildung bzw. für die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf ihren Fall aufmerksam zu machen. Nach Prüfung aller Unterlagen forderten die Sonderberichterstatter die Bundesregierung als Vertragsstaat der UN-BRK offiziell auf, zur Verweigerung des Rechts auf inklusive Bildung Stellung zu beziehen.

Sie forderten von der Bundesregierung dafür Sorge zu tragen, dass die Schülerin so schnell wie möglich eine inklusive Regelschule an ihrem Wohnort mit der notwendigen individuellen Unterstützung und angemessenen Vorkehrungen besuchen könne. Sie möge Informationen darüber beschaffen, wie das Kindeswohl und die Beteiligungsrechte der betroffenen Schülerin, die sich sehr klar für eine inklusive Schule ausgesprochen habe, von den Behörden und dem Jugendamt berücksichtigt wurden.

Der „blinde Fleck“

Diese Aufträge an die Bunderegierung hätten Hinweise für die Kammer sein müssen, die vorgelegten gerichtlichen Sachverhalte zu überprüfen, statt sie lediglich eins zu eins zu übernehmen. Zwischenzeitlich hatten sich unter dem Eindruck der Genfer Einmischung Ministerien, Schulbehörden und Jugendamt mit Mutter und Tochter auf die Umschulung aus der Förderschule in eine inklusive Schwerpunktschule zum Schuljahresbeginn 2021/22 verständigt. Alles schien nun im Lot. Die Bunderegierung wies Verstöße gegen das Recht auf inklusive Bildung zurück. Nicht die inklusive Bildung sei verweigert worden, sondern der Mutter sei die Fähigkeit abgesprochen worden, eine im Sinne des Kindeswohls richtige schulische Entscheidung treffen zu können.

Auch die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte sah die Notwendigkeit, sich mit einer Stellungnahme im Rahmen der Verfassungsbeschwerde zu den aus menschenrechtlicher Sicht erheblichen Aspekten zu äußern, die in den Vorinstanzen keine adäquate Berücksichtigung gefunden hatten. Ihre Hinweise wurden ebenfalls von den Verfassungsrichter*innen nicht aufgegriffen.

Dass die Entscheidung für die Umschulung in die Förderschule im Licht der von Deutschland ratifizierten UN-BRK bewertet werden muss, ist der „blinde Fleck“ der Karlsruher Richter*innen. Auch wenn völkervertragliche Bindungen wie die aus der UN-BRK innerstaatlich nicht den Rang von Verfassungsrecht haben, kommt ihnen als Auslegungshilfe von Grundrechten und Grundsätzen des Grundgesetzes große Bedeutung zu, wie das BVerfG mehrfach selbst festgestellt hat.

Die Richter*innen nehmen nicht zur Kenntnis, dass die Zuweisung zur Förderschule im Sinne der UN-BRK eine Diskriminierung darstellt und das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes in Artikel 3 somit durch die Konvention eine zusätzliche Verstärkung erfährt. Sie verschließen sich der völkerrechtlichen Erkenntnis, dass die Zuweisung zur Förderschule gegen das Individualrecht des Kindes auf inklusive Bildung verstößt und dieses Recht ebenso wie das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zur allgemeinen Schule als unmittelbar anwendbares Recht gewährt werden muss.

Sie ignorieren, dass Artikel 24 UN-BRK von der Prämisse ausgeht, dass inklusive Bildung dem Kindeswohl entspricht. Das gemeinsame Lernen will allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit mit angemessener Unterstützung und hochwertigen Lernbedingungen individuelle Entwicklung und die Erfahrung von Anerkennung und bedingungsloser Zugehörigkeit ermöglichen, die die Grundlage für das Bewusstsein der eigenen Würde und die Achtung der Menschenrechte sind.

Bedauerliche Entscheidung

Was hat die Kammer daran gehindert, sich an den völkerrechtlichen Normen der UN-BRK zu orientieren? Es muss wohl der unerschütterliche Glaube an den eigenen Beschluss von 1997 sein, in dem der Erste Senat des BVerfG die Auffassung vertrat, dass die Überweisung zur Sonderschule „nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung“ im Sinne des Grundgesetzes darstelle.

Die Entscheidung der Kammer ist nicht nur für die Beschwerdeführerinnen bedauerlich. Auch wenn es sich um eine reine „Nichtannahmeentscheidung“ einer Kammer des BVerfG handelt, spielen die Richter*innen den Kräften in die Hände, die – wie das rheinland-pfälzische Jugendamt – inklusive Bildung als Kindeswohlgefährdung umdeuten und mit der Androhung des Sorgerechtsentzugs Eltern davon abhalten, das Recht auf inklusive Bildung für ihr Kind einzufordern und wahrzunehmen. Es wird erwartet, dass der UN-Fachausschuss in Genf den Fall genauer und differenzierter anschaut, als es die Kammer des BVerfG offensichtlich getan hat.

Brigitte Schumann (11/2021)