von Brigitte Schumann
Die aktuelle Studie über Erfahrungen von Förderschülerinnen und -schülern mit sexualisierter Gewalt und die vom Hessischen Kultusministerium daraus gezogenen Konsequenzen greifen zu kurz. Sie nehmen die negativen Effekte der extremen sozialen Segregation nicht in den Blick.
Gewalt als strukturelles Problem der Förderschule
In seinen Untersuchungen hat Klaus-Jürgen Tillmann schon 1999 die Förder-/Sonderschule mit dem Schwerpunkt Lernen als Ort mit den höchsten Zahlen an Gewalthäufigkeit ausgewiesen. Danach gehört das schulformspezifische Milieu der Förderschule zu den risikoerhöhenden Bedingungen für Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen.
Die sozialstrukturelle Benachteiligung dieser Schülerschaft führt in der Grundschule zu Leistungs- und Schulversagen und ihre Auslese in die Förderschule zu Diskreditierung und Stigmatisierung. Die enormen Anerkennungsdefizite, die die Jugendlichen in ihrer Schulbiografie auf diese Weise ansammeln, beschädigen ihr Selbstwertgefühl und fördern insbesondere bei Jungen aggressives und deviantes Verhalten. Durch die Zusammenführung und die soziale Isolation in der Förderschule, wo sie von dem Austausch mit Schülern und Schülerinnen aus anderen sozialen Milieus abgeschnitten sind, bildet sich das schulformspezifische Milieu der Förderschule heraus, das ein gewaltbegünstigendes Schulklima schafft.
Der ungebrochene sonderpädagogische Mythos vom „Schutz- und Schonraum“ Förderschule
Obwohl die empirische Forschung die protektive Wirkung der Förderschule gründlich widerlegt hat, hat sich die Vorstellung der Sonderpädagogik bis heute erhalten können, dass die Förderschule für alle Förderschwerpunkte eine unverzichtbare Schutzfunktion für ihre Schülerschaft übernimmt. Dieser Mythos wird jedoch weder durch die Studie selbst noch durch das Hessische Kultusministerium als Auftraggeber der Untersuchung zum Problem gemacht und trotz der von der Studie nachgewiesenen Gewalthäufigkeit an Förderschulen nicht ernsthaft in Frage gestellt.
Die Studie attestiert Förderschülerinnen und Förderschülern bezogen auf sexualisierte Gewalt eine umfassende „Sprachlosigkeit“, macht aber nicht deutlich, dass sich darin der Mangel an sprachlichen, kulturellen und sozialen Anregungen und Vorbildern ausdrückt, der aus der Abtrennung von Schülerinnen und Schülern mit anderen Einstellungen, Verhaltensweisen und Kommunikationsformen zu Sexualität und Gewalt entsteht.
Wenn die Studie herausstellt, dass Mädchen an Förderschulen im Vergleich zu Mädchen an allgemeinen Schulen ein besonders großes Risiko haben, mit Gewalterfahrungen konfrontiert zu werden, dann müsste auch der extrem hohe Jungenanteil an der Förderschule problematisiert werden, der die Herausbildung aggressiver Cliquen und die Dominanz eines aggressiven Werteklimas an segregierten Förderschulen nach sich zieht.
Insgesamt verschleiert die Studie die reale Situation von Schülerinnen und Schülern der Förderschule, wenn sie feststellt, sie seien „in mehrfacher Hinsicht verletzlich, bringen aber auch Ressourcen und Kompetenzen mit“.
Chancenlos: soziale Inklusion als Prävention gegen Gewalt
Als Lösung will der hessische Kultusminister Lorz Präventionsmaßnahmen für alle Schulformen bedarfsgerecht weiterentwickeln und im Rahmen von Fort-und Ausbildungskonzeptionen bereitstellen. Das soll selbstverständlich auch für Förderschulen gelten. Da Förderschulen auch in Hessen zum unverzichtbaren Bestand des deutschen Schulsystems gehören, wird die Perspektive, die segregierenden Förderschulstrukturen abzubauen und zu überwinden, wie dies die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verlangt, gar nicht erst in den Blick genommen. Auch fast 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK ist die Übernahme der menschenrechtlichen Sicht, dass Erfahrungen von Zugehörigkeit, Anerkennung und gleichberechtigter sozialer Teilhabe in einem inklusiven Schulsystem die einzig wirksame Prävention gegen Gewalt für alle Schülerinnen und Schüler sind, immer noch undenkbar für die deutsche und hessische Bildungspolitik.