Eine wissenschaftliche Studie zeigt sehr unterschiedliche Bildungschancen für geflüchtete und nichtgeflüchtete Kinder in NRW. Die Studie „Bildungsbeteiligung und Schulerfolg von Geflüchteten in NRW“ wurde von 2019 bis 2020 vom Wuppertaler Institut für bildungsökonomische Forschung und von der Universität Osnabrück durchgeführt.
Gefördert wurde das Projekt vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. Da die amtliche Schulstatistik keine Informationen zu Geflüchteten und ihrem Rechtstatus enthält, wurde ein sekundäranalytischer Ansatz gewählt. Dabei werdenInformationen aus dem Ausländerzentralregister mit Daten aus der nordrhein-westfälischen Schulstatistik verknüpft und „näherungsweise“ die Datenlücke zur Bildungssituation von Geflüchteten verkleinert. Als Indikatoren für die Bildungschancen wurden die Bildungsbeteiligung und der Schulerfolg zugrunde gelegt. Während der Schulerfolg an den erreichten formalen Abschlüssen 2018 gemessen wurde, wurde bei der Bildungsbeteiligung nach den besuchten Schulformen der Jahrgänge 5-9 im Schuljahr 2018/19 gefragt.
Potentiell aufschlussreich wäre aus Sicht der Studie auch eine Analyse der Übergänge Geflüchteter von der Primarstufe in die Sekundarstufe I. Diese konnte nicht durchgeführt werden, da in NRW schulstatistisch keine Informationen zur Staatsangehörigkeit der Schulwechslerinnen und -wechsler nach der Grundschule erhoben werden.
Schulformspezifische Disparitäten
Die Projektstudie gibt die Zahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in NRW in den Jahrgängen 5-9 im Schuljahr 2018/19 mit 860.888 an. Den 37.183 geflüchteten Schülerinnen und Schülern (4,3 %) stehen 823.705 nichtgeflüchtete (95,7 %) gegenüber, von denen 59.184 (6,9 %) nichtdeutsch und nichtgeflüchtet sind.
Die Hauptschule hat mit 15,1 % den höchsten Anteil geflüchteter Schülerinnen und Schüler, das Gymnasium mit 2,1 % den geringsten. Der Hauptschulbesuchsanteil der Geflüchteten ist beinahe 4-mal so groß gegenüber den Nichtgeflüchteten. Schülerinnen und Schüler mit Fluchthintergrund besuchen halb so oft wie Schülerinnen und Schüler ohne diesen ein Gymnasium.
Die Studie fasst zusammen „Zwischen Geflüchteten und Nichtgeflüchteten bestehen auf Landesebene schulformspezifische Disparitäten. Hinsichtlich des Besuchs von Förderschulen und sonstigen weiterführenden Schulformen fallen diese allenfalls gering aus. Deutliche Unterschiede bestehen derart, dass Geflüchtete im Vergleich zu Nichtgeflüchteten Hauptschulen erheblich überrepräsentiert, Gymnasien hingegen deutlich unterrepräsentiert besuchen.“
Staatsangehörigkeitsspezifische und räumliche Disparitäten
Innerhalb der Gruppe der neuzugewanderten Schülerinnen und Schüler zeigt sich nach Staatsangehörigkeit ein unterschiedliches Bild in der Bildungsbeteiligung: Albanische, angolanische und libanesische Schülerinnen und Schüler haben verglichen mit nichtgeflüchteten ein fast dreifach höheres Risiko, die Förderschule zu besuchen und eine besonders geringe Chance auf den Gymnasialbesuch.
Große Unterschiede in der Bildungsbeteiligung zeigen sich auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte, auch unter Berücksichtigung des Schulangebots. Die Studie konstatiert: „So gibt es Kreise und kreisfreie Städte, in denen Geflüchtete anteilig weniger als 1,5-mal so oft maximal die Schulform Hauptschule wie Nichtgeflüchtete besuchen, diesen stehen verschiedene weitere Kreise und kreisfreie Städte gegenüber, in denen Geflüchtete anteilig mindestens viermal so oft wie Nichtgeflüchtete maximal die Schulform Hauptschule besuchen.“
Während im Schuljahr 2018 landesweit jeder vierte geflüchtete Schüler die Hauptschule besucht, ist es in der kreisfreien Stadt Hamm und dem Rhein-Erft-Kreis jeder zweite. Auch der Förderschulbesuchsanteil variiert erheblich. Die Bandbreite liegt zwischen 0,85 % im Kreis Warendorf und 9,5 % im Rhein-Sieg-Kreis, während auf Landesebene 3,9 % der Geflüchteten eine Förderschule besuchen.
Disparitäten im Schulerfolg
Im Abgangsjahr 2018 verlassen knapp 4.700 geflüchtete Schülerinnen und Schüler in NRW eine allgemeinbildende Schule. Über ein Viertel von ihnen (26,2 %) bekommt keinen qualifizierten Abschluss. Mit 40,2 % erreichen sie am häufigsten einen Hauptschulabschluss. Dagegen schließen lediglich 25,6 % mit der Fachoberschulreife ab und nur 8,0 % können die (Fach-)Hochschulreife erwerben.
Die geflüchteten Schülerinnen und Schüler schneiden bezogen auf den Schulerfolg deutlich schlechter ab als die nichtgeflüchteten. „Sie verlassen knapp dreimal so oft die Schule mit Hauptschulabschluss und 4,5-mal so oft ohne Hauptschulabschluss wie Nichtgeflüchtete. Der Anteil von Schulabgängerinnen und -abgängern mit (Fach-)Hochschulreife beträgt nicht einmal ein Fünftel des Anteils von Nichtgeflüchteten.“
Auch wenn Schülerinnen und Schüler mit Fluchthintergrund dieselbe Schulform wie nichtgeflüchtete besuchen, erzielen sie einen geringeren Schulerfolg. Während ihr Erfolg an den Förder- und Hauptschulen etwas geringer ausfällt als für Nichtgeflüchtete, sind die Unterschiede an sonstigen weiterführenden Schulen und Gymnasien deutlich ausgeprägt. „Hier verlassen Geflüchtete um ein Mehrfaches häufiger die Schule mit maximal Hauptschulabschluss, während sie erheblich seltener als Nichtgeflüchtete die (Fach-) Hochschulreife erlangen.“
Auch im Schulerfolg zeigen sich staatsangehörigkeitsspezifische und räumliche Unterschiede.
„Abwärtsselektion“
Um herauszufinden, wie sich die Bildungsbeteiligung der Geflüchteten nach Absolvierung der Vorbereitungsklassen darstellt, hat die Studie die Schulformbesuchsanteile in den Jahrgängen 5-9 im Jahr 2018 mit den Anteilen der von Schulabgängerinnen und -abgängern zuletzt besuchten Schulform verglichen. Es zeigen sich zum Zeitpunkt des Abgangs geringere Besuchsanteile von sonstigen weiterführenden Schulformen und Gymnasien, aber eine deutliche Zunahme der Besuchsanteile von Haupt- und teilweise auch Förderschulen.
„Dass die sehr hohen Hauptschulbesuchsanteile nach der Absolvierung der Vorbereitungsklassen und der Neuverteilung auf die Schulformen nicht etwa zurückgehen, sondern weiter zunehmen, während der Gymnasialbesuch von Seiteneinsteigern tendenziell weiter abnimmt“, kann laut Studie „als Hinweis darauf verstanden werden, dass es im Zeitverlauf zu einer schulformbezogenen Abwärtselektion kommt“.
Bildungspolitische Schlussfolgerungen
Die Studie beschränkt sich auf die Empfehlung an die Bildungspolitik, ein Monitoring einzurichten, um die Entwicklung der Bildungssituation beobachten und steuern zu können. Dabei verweist sie darauf, dass NRW als Flächenland einen besonders hohen Anteil an Geflüchteten hat. Empfehlungen, wie die extreme Bildungsbenachteiligung verbessert werden kann, gibt sie nicht.
Wichtige Hinweise dazu enthält die Studie ReGES (Refugees in the German Educational System), die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe durchgeführt wird). Sie hat neben dem Einfluss, den der Bildungsstatus der Eltern auf den Schulformbesuch hat, einen Zusammenhang zwischen der Bildungsbeteiligung und der Organisation der Beschulung von neuzugewanderten Schülerinnen und Schülern festgestellt. „In Bundesländern, die Neuzuwandererklassen vornehmlich an eher zu Berufsausbildungen und nicht in erster Linie auf ein Studium vorbereitende Schulformen ansiedeln, gelingt den Jugendlichen beim Übergang in die Regelklassen der Wechsel auf ein Gymnasium seltener als in Bundesländern, die Neuzuwandererklassen in allen Schulformen gleichermaßen ansiedeln.“
Ungleichheit mit System
NRW gehört nicht rein zufällig zu den Bundesländern mit einer extrem ungleichen Verteilung der Vorbereitungsklassen auf die unterschiedlichen Schulformen. Die Verteilung folgt dem bildungspolitischen Programm, auf das sich die schwarz-gelbe Landesregierung im Koalitionsvertrag 2017 festgelegt hat. Dort heißt es: „An Hauptschulen werden wir durch eine verstärkte Kooperation mit beruflichen Schulen, der regionalen Wirtschaft, den Handwerkskammern und den Industrie- und Handelskammern in regionalen „Bündnissen für Schule, Ausbildung und Beruf“ die Berufsorientierung intensivieren. Weitere zentrale Ziele sind die konzeptionelle Weiterentwicklung der Integration von praktisch interessierten Flüchtlingen und des inklusiven Unterrichts mit Blick auf die Berufsorientierung.“
Für die institutionelle „Rettung“ der eigenständigen Hauptschule hatte die konservativ geführte Regierung unter Ministerpräsident Rüttgers von 2005 bis 2010 zwar einige Anstrengungen zur Attraktivierung des Hauptschulangebots unternommen – ohne jedoch den langanhaltenden Abwärtstrend im Elternwahlverhalten aufhalten zu können. Der derzeitigen Regierung kommen geflüchtete Schülerinnen und Schüler gerade recht, um die rückläufigen Hauptschulanmeldungen aufzufangen. Der Preis dafür ist die Erfolgslosigkeit der Kinder und Jugendlichen mit Fluchthintergrund und das potentielle Scheitern ihrer gesellschaftlichen Integration.
Dass in einigen Kreisen wie dem Rhein-Sieg-Kreis die Exklusionsquoten von Geflüchteten extrem hoch sind und die Besuchsanteile von Förderschulen im Verlauf als Folge der „Abwärtsselektion“ zunehmen, liegt ganz auf der Linie der Regierung, Förderschulen zu erhalten.
Inklusive Strukturen entwickeln!
Eine gleichmäßige anteilige Verteilung der neuzugewanderten Schülerinnen und Schüler auf alle Schulformen der Sekundarstufe, allerdings ohne Einbeziehung der „ausgezehrten“ Hauptschule, kann nur der erste Schritt sein. Entscheidend ist, dass der inklusionsfreundliche Grundsatz für alle Schulformen gilt, die einmal aufgenommenen Schülerinnen und Schüler auch nach Absolvierung der Vorbereitungsklassen zu behalten, zu fördern und zu den ihnen bestmöglichen Abschlüssen zu führen. Das bedeutet, dass das Gymnasium wieder den Hauptschulabschluss anbieten muss.
Dass Schülerinnen und Schüler mit Fluchthintergrund in Förderschulen ausgesondert werden, ist ein Beitrag zu ihrer gesellschaftlichen Exklusion. Es muss gelten: Auch Kinder mit Fluchterfahrung haben ein Recht auf inklusive Bildung.
Brigitte Schumann (11/2021)