von Brigitte Schumann                         06/2021

Eine bildungssoziologische Studie hat untersucht, ob es für Schulabgängerinnen und -abgänger der Förderschule Lernen, die in der Regel ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen, eine „zweite Chance“ durch den Zugang zu einer beruflichen Ausbildung gibt.

Die Bildungssoziologin Jonna Blanck (2020) hat mit ihrer Studie „Übergänge nach der Schule als zweite Chance?“ wichtige Datenlücken geschlossen, die es zu dem Untersuchungsgegenstand gibt. Die wenigen bisher publizierten Untersuchungen haben aus ihrer Sicht nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Es handelt sich überwiegend um qualitative Untersuchungen, die meist regional orientiert sind und von geringen Fallzahlen ausgehen. Aussagen über die Effekte des Förderschulbesuchs basieren zudem auf Analysen ohne Vergleichsgruppen.

Mit Rückgriff auf längsschnittliche Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zu Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklung hat sie eine empirische Untersuchung mit einer deutschlandweiten Stichprobe durchgeführt. Mit der Gruppe der Hauptschülerinnen und -schüler, die es als sozial Benachteiligte ebenfalls auf dem regulären Ausbildungsmarkt schwer haben, hat sie eine geeignete Vergleichsgruppe gefunden. Außerdem ist sie der Frage nachgegangen, wie die Berufsberatung der Agenturen für Arbeit, die als „Gatekeeper“ eine entscheidende Rolle für den Zugang zu beruflichen Ausbildungen spielen, auf die soziale Benachteiligung der Förderschülerinnen und -schüler einwirken.

Im theoretischen Teil ihrer Studie bildet Blanck - anknüpfend an den Forschungsstand - Hypothesen, die sie im zweiten Teil mit einem Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Methoden empirisch überprüft. Mit ihrer Untersuchung nimmt sie bewusst einen Perspektivenwechsel von bislang eher sonderpädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsansätzen zu einer soziologischen Betrachtung vor.

Geringe „Agency“

In den vorliegenden Untersuchungen gibt es eindeutige und übereinstimmende Hinweise, dass Förderschülerinnen und -schüler über eine geringe Agency verfügen. Mit Agency ist die Fähigkeit gemeint, selbständige Entscheidungen zu treffen und soziale Beziehungen auszugestalten. Jugendliche aus Förderschulen sind aufgrund ihrer geringen Agency in ihrem Bewerbungsverhalten erheblich eingeschränkt. Sie haben meistens keine eigenen Ausbildungswünsche oder -ziele entwickelt. Viele bemühen sich erst gar nicht um einen Ausbildungsplatz.

Ausschlaggebend für diese Form der negativen Selbstselektion ist aus bildungssoziologischer Sicht ihre schulische Identitätsbeschädigung. Sie entsteht durch die stigmatisierende Etikettierung als „lernbehindert“ und die daran geknüpfte schulische Segregation in der Förderschule. Durch den Förderschulbesuch werden die Jugendlichen mit Zuschreibungen von Hilfsbedürftigkeit und Schwäche konfrontiert, die sie in ihre Selbstwahrnehmung inkorporieren, während für den Übergang in berufliche Ausbildungen Selbstvertrauen und Selbsttätigkeit gefragt sind. Die Wahrnehmung, dass sie als kaum Aussicht auf einen regulären Ausbildungsplatz haben, löst einen Abkühlungsprozess aus, der als „Cooling-Out“ auch zur vollständigen Abkehr von Ausbildungsaspirationen führen kann.

Blanck kann mit den Ergebnissen ihrer deskriptiven Analysen von bundesweiten Stichproben die vorliegenden Befunde und theoretischen Erklärungen zur Agency von Förderschülerinnen und -schülern bestätigen. Sie kann auch ihre Hypothese, dass Hauptschülerinnen und -schüler weniger beschädigt sind, verifizieren. „In mehr als fünf Agency-Dimensionen, die mit Stigmatisierung und Cooling-Out in Verbindung stehen, zeigen sich erwartungsgetreu Unterschiede zwischen Abgängerinnen und Abgängern von Förder- und Hauptschulen. Wobei die Agency der Jugendlichen von Förderschulen eingeschränkter ist als die derer von Hauptschulen.“

Als Ergebnis stellt sie heraus, dass Jugendliche aus Förderschulen sich durchschnittlich seltener auf Ausbildungsstellen bewerben. 36,1 % von ihnen geben als Grund ihre Chancenlosigkeit auf einen Ausbildungsplatz an, während es bei den Abgängerinnen und Abgängern aus Hauptschulen nur 18,2 % sind. Nur die Hälfte der Förderschülerinnen und -schüler hat einen Berufswunsch entwickelt, bei Jugendlichen aus der Hauptschule sind es zwei Drittel.  Förderschülerinnen und -schüler haben geringe Bildungsaspirationen. Sie wünschen sich seltener, weiter zur Schule zu gehen und wollen auch seltener eine Berufsausbildung direkt nach der Schule aufnehmen.

Geringes Sozialkapital

Bezogen auf das Sozialkapital kann Blanck die stärkere Benachteiligung der Förderschülerinnen und -schüler bestätigen. Ihre Eltern haben doppelt so häufig beide keinen Schulabschluss. Sie sind seltener in qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt als Eltern von Hauptschülerinnen und -schülern. Sie kennen weniger Personen, die ihnen Informationen und Unterstützung im Übergang nach der Schule bieten können. Die Segregation in der Förderschule verhindert, dass sie ihre geringen Netzwerkressourcen erweitern können.

Die Übergänge spiegeln die Benachteiligung der Förderschülerinnen und -schüler bezüglich ihrer eingeschränkten Agency und ihrer geringen sozialen Ressourcenausstattung wider. Sie haben direkt nach Verlassen der Schule oder ein Jahr später seltener einen regulären Ausbildungsplatz als Abgängerinnen und Abgänger von Hauptschulen. Während 48,6 % der Hauptschülerinnen und -schüler einen Ausbildungsplatz direkt im Anschluss nach der Schule bekommen, sind es bei den Förderschülerinnen und -schülern nur 16,9 %. Drei Viertel von ihnen absolvieren berufsvorbereitende Maßnahmen, der entsprechende Anteil bei den Schülerinnen und Schülern aus Hauptschulen beträgt 41,7 %.

Blanck hebt hervor, dass ein durchaus substanzieller Anteil an Jugendlichen aus beiden Schulformen nach berufsvorbereitenden Maßnahmen in Ausbildungsberufe übergeht, während ein ebenfalls beträchtlicher Teil an Jugendlichen aus beiden Schulformen in „Maßnahmeschleifen“ hängenbleibt. Sie stellt heraus, dass Jugendliche aus Förderschulen häufiger als jene aus Hauptschulen Ausbildungen absolvieren, die auf dem Arbeitsmarkt schlecht verwertbar sind. Dazu zählen die außerbetriebliche Fachpraktikerausbildung und theoriegeminderte zweijährige Ausbildungen.

Der globale Negativeffekt der Förderschule

Blanck hat getestet, „ob es - unabhängig von der familiären Benachteiligung - einen kausalen Effekt des Besuchs der Förderschule auf die Chancen gibt, direkt nach Verlassen der Schule einen Ausbildungsplatz zu finden“. Sie ist dabei von der Hypothese ausgegangen, dass Übergänge vom Förderschulbesuch negativ beeinflusst werden.

Unter Anwendung komplexer statistischer Verfahren wie dem Matching-Verfahren wurden zu Förderschülerinnen und -schüler statistische Zwillinge aus der Kontrollgruppe der Abgängerinnen und Abgänger aus Hauptschulen ermittelt, die vergleichbar bezogen auf familiäre Benachteiligung, kognitive Grundfähigkeiten und sozialstrukturelle Merkmale waren. Als Ergebnis kann Blanck festhalten, „dass Förderschülerinnen und -schüler, die Hauptschülerinnen und Hauptschülern in den in das Matching einbezogenen Merkmalen ähnlich sind, eine um 28,4 Prozentpunkte gesteigerte Chancen gehabt hätten, einen Ausbildungsplatz zu finden, wenn sie statt der Förderschule die Hauptschule besucht hätten“.

Um auszuschließen, dass der negative Effekt der Förderschule auf die Ausbildungschancen sich mit den fehlenden Schulabschlüssen der Förderschülerinnen und Schüler erklärt, wurde in einem weiteren Matching- Verfahren das Merkmal Schulabschluss mit untersucht. Danach erklärt der Förderschulbesuch mit 21 Prozentpunkten immer noch die schlechteren Chancen von Schülerinnen und Schülern der Förderschule gegenüber vergleichbaren Hauptschülerinnen und -schülern, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Die Rolle der Berufsberatung

Bei allen bisherigen Untersuchungen fand Blanck die Rolle der Berufsberatung bei den Agenturen für Arbeit für den Übergang von der Schule in die Ausbildung nicht hinreichend untersucht, obwohl sie die Abgängerinnen und Abgänger aus Förderschulen nicht nur berät, sondern auch entlang der Kategorien Förderbedürftigkeit, Behinderung und Eignung klassifiziert und darauf die Maßnahmen und Hilfen abstimmt. Da den Beraterinnen und Beratern formal große Entscheidungsspielräume gegeben sind, ist Blanck in „empirischer Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse“ mittels Experteninterviews der Frage nachgegangen, ob sie diese nutzen, um die Benachteiligung der Jugendlichen zu kompensieren oder ob ihre Maßnahmen eher zur Verfestigung und Forstsetzung der Benachteiligung führen.

Es zeigt sich, dass das Handeln der Akteure durch Deutungsangebote aus dem Umfeld Schule, Betriebe, Maßnahmeträger und durch Vorgaben des eigenen Systems vorstrukturiert ist, so dass die Abläufe und Entscheidungen weitgehend unabhängig von den beratenden Individuen getroffen werden. Formale Spielräume werden so eingeschränkt.

Für die Förderschülerinnen und -schüler sind die Reha-Beraterinnen und -Berater zuständig, die in engem Kontakt mit den Schulen schon während des Schulbesuchs berufsorientierend arbeiten. Obwohl sie gehalten sind, unabhängig von den Schulen eine Einschätzung vorzunehmen, ob die Diagnose „Lernbehinderung“ nach der Schulentlassung weiter vorliegt, übernehmen sie die sonderpädagogischen Schulgutachten ebenso wie die immer noch in der Sonderpädagogik vorherrschende medizinisch geprägte Vorstellung von „Lernbehinderung“ als individuumsbezogenes Merkmal und Defizit. Wie der berufspsychologische Service, den sie ebenfalls gutachterlich heranziehen, deuten die Akteure der Berufsberatung „Lernbehinderung“ als Intelligenzminderung, die nicht reparabel ist. Folglich wird in der Regel der schulische Behindertenstatus nicht aufgehoben, sondern fortgeschrieben. Die Benachteiligung wird nicht kompensiert, sie wird fortgesetzt.

Bei der Feststellung der Eignung spielen Ausbildungsreife und Vermittelbarkeit als Kriterien die entscheidende Rolle. Das Ergebnis ist ebenfalls von dem medizinisch geprägten Begriff der Lernbehinderung beeinflusst. Insofern ist nicht überraschend, dass die Berufsberatung Förderschülerinnen und -schüler vorwiegend für segregierende berufsvorbereitende Maßnahmen vorsieht und ihnen im Anschluss daran reduzierte Fachpraktikerausbildungen in segregierenden Berufsförderwerken anbietet. Wünsche von Eltern und Jugendlichen nach inklusiven Maßnahmen werden als nicht vorteilhaft für die berufliche Entwicklung zurückgewiesen. Die Vorstellung von „Lernbehinderung“ als negative Abweichung von normierten Standards führt dazu, dass selbst positive Praktikumsberichte oder die feste Aussicht auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz die Entscheidung der Berufsberatung nicht maßgeblich beeinflussen.

Auch im System der Agenturen für Arbeit liegen Gründe, warum betriebliche Ausbildungen eher selten bis gar nicht für Förderschülerinnen und -schüler in Betracht gezogen werden. Die Qualität der Beratung wird an der erfolgreichen Vermittlungsquote gemessen. Da aber die Betriebe wie Blanck zeigen kann, sich an den Schulabschlüssen der Jugendlichen orientieren „und erfahrungsgemäß den Absolventinnen und Absolventen der Förderschulen nicht den Vorzug geben, gelten sie als schlecht vermittelbar und passen nicht in das Beratungssystem.  Da von den Vermittlungsquoten der Agenturen auch abhängt, welche Finanzmittel ihnen zugwiesen werden, tendieren die Agenturen dazu, die erfolgversprechenden Bewerberinnen und Bewerber in die Ausbildung zu bringen und den weniger erfolgversprechenden die Ausbildung auszureden. Bei der Suche nach regulären betrieblichen Ausbildungsplätzen sind die Förderschülerinnen und -schüler allein auf sich gestellt und können auch nicht mit unterstützender Begleitung rechnen, wenn sie einen Ausbildungsplatz selbständig gefunden haben.

Schlussfolgerungen

Blanck kann zeigen, dass die Förderschule Lernen die soziale Benachteiligung ihrer Schülerschaft nicht ausgleicht. Stigmatisiert und ausgesondert als „Lernbehinderte“ werden sie zusätzlich in ihren Ausbildungschancen extrem benachteiligt. Damit wird die Förderschule ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht und verliert ihre Legitimation und Berechtigung.

Die großen Überschneidungen bei den kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler an Förder- und Hauptschulen, die Blanck in ihrer Untersuchung sichtbar macht, bestätigen, dass die sonderpädagogische Diagnose einer „Lernbehinderung“ bzw. eines sonderpädagogischen Förderbedarfs Lernen nicht nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt, sondern das Ergebnis einer relativ willkürlichen Zuschreibung ist.

Blanck plädiert folgerichtig nicht nur für die Abschaffung der Förderschule Lernen, sondern auch dafür, die förmliche Feststellung der „Lernbehinderung“ abzuschaffen. Unterstützende Ressourcen für die inklusive Förderung sollten von der Notwendigkeit der Etikettierung entkoppelt werden. Damit „wird zumindest die formale Stigmatisierung der Gruppe vermieden und die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass sich diese nach Verlassen der Schule fortsetzt“.

Für die Berufsberatung fordert Blanck, dass Beratung, Förderung und Hilfeplanung individuell und unabhängig von der Feststellung einer „Lernbehinderung“ erfolgen, da diese zwangsläufig zur Zuweisung segregierender Maßnahmen führt und damit die Diskriminierung und Diskreditierung der Abgängerinnen und Abgänger von Förderschulen im Erwachsenenleben fortschreibt.

Da die Studie auch zeigen kann, dass Ausbildungsaspirationen noch am ehesten dazu beitragen können, dass Förderschülerinnen und -schüler trotz ihrer Benachteiligung einen betrieblichen Ausbildungsplatz bekommen, sollten Selbstvertrauen, Motivation und Bereitschaft für eine berufliche Ausbildungsperspektive schon im Prozess der Berufsorientierung gefördert werden. Gleichzeitig sollten ausreichende Fördermittel zur Verfügung stehen, um die Jugendlichen in betrieblichen Ausbildungen unterstützend zu begleiten.

Um „die Hegemonie von medizinischen Behinderungskonzeptionen sowie traditionellen sonderpädagogischen Vorstellungen aufzubrechen“, hält Blanck jedoch neben strukturellen Veränderungen Bewusstseinsbildung für alle Beteiligten an der Berufsberatung in den Agenturen für Arbeit für erforderlich. Diese Forderung gilt es zu erweitern, denn die Hegemonie der Sonderpädagogik bestimmt nicht nur das Verhalten der Berufsberatung. Sie erklärt auch den politischen und gesellschaftlichen Widerstand inklusive Bildung auf allen Ebenen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen.