von Brigitte Schumann 05/21
Die Vorgehensweise eines Jugendamtes in Rheinland-Pfalz, gegen den Willen einer Alleinerziehenden und ihrer Tochter eine Umschulung aus einer inklusiven Regelschule in eine Förderschule vorzunehmen, hat über eine Petition zwei UN-Sonderberichterstatter auf den Plan gerufen.
Den Eingriff in das elterliche Sorgerecht der Alleinerziehenden konnte ein Jugendamt in Rheinland-Pfalz mit der Begründung gerichtlich durchsetzen, dass die Mutter, die auf einer inklusiven Schwerpunktschule statt einer Förderschule bestand, das Kindeswohl ihrer Tochter gefährde. Mit der Übertragung von Teilen des Sorgerechts auf das Jugendamt verfügte dieses auch gegen den Willen der Schülerin die Überweisung zur Förderschule. Der Fall ist ausführlich im bildungsklick dargestellt worden.
Verfassungsbeschwerde mit Eilantrag
Die Mutter sah sich veranlasst, im Juni 2020 den Gang nach Karlsruhe anzutreten und zusammen mit ihrer Tochter eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Während der Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aussetzung des Sorgerechtsentzugs vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wurde, läuft die Beschwerde im Hauptsacheverfahren weiter.
Die Beschwerde will u.a. geklärt wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen Behörden und Gerichte unter Berücksichtigung des Grundgesetzes und der von der Bunderepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention die Annahme einer Kindeswohlgefährdung auf eine Weigerung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung und ihrer sorgeberechtigten Eltern stützen dürfen, die Förderschule zu besuchen.
Die Beschwerde begründet ihre verfassungsrechtliche Bedeutung mit mehreren Verstößen gegen das Grundgesetz. Da ist zum einen Artikel 6, der das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert. Da ist Artikel 3, der ein Diskriminierungsverbot gegenüber Menschen mit Behinderungen enthält und durch die UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt wird. Zwar habe die Konvention keinen Verfassungsrang, sei aber bei der Auslegung des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verfassungsrechtlich bedeutsam, so die prozessbevollmächtigten Anwälte.
Bedeutung der UN-Sonderberichterstatter
Die Institution der Sonderberichterstatter ist bedeutsam, auch wenn sie keine Rechtssprechungskompetenz haben. Man erinnere sich nur an das Aufsehen, das Vernor Muñoz als ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung durch seinen Deutschlandbesuch 2006 auslösen und auf seine Mission lenken konnte. Sein Abschlussbericht vor dem UN-Menschenrechtsrat machte international publik, dass das hierarchisch gegliederte deutsche Schulsystem bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen strukturell benachteiligt und von der menschenrechtlichen Erfüllung des Rechts auf Bildung weit entfernt ist.
Sonderberichterstatter sind dem Menschenrechtsrat zugeordnet und werden von diesem für maximal 6 Jahre ernannt. Sie arbeiten ehrenamtlich und sind keine Angestellten der Vereinten Nationen. Sie reagieren nach eigenem Ermessen auf Eingaben von Einzelpersonen, Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Verstößen gegen Menschenrechtsnormen an sie wenden.
Nehmen sie sich eines Falls an, der nachvollziehbar und überzeugend begründet ist, dann fordern sie Regierungen schriftlich auf, zu dem von ihnen ausführlich dargelegten Sachverhalt Stellung zu beziehen und darzulegen, was sie unternehmen werden, um den Missstand oder die Verletzung zu beheben. Sie legen in einem Bericht an den Menschenrechtsrat dar, in welcher Angelegenheit und welcher Weise sie tätig geworden sind und welche Erwiderung sie von der Regierung bekommen haben.
Starke Signale an die Bundesregierung
Gleich zwei Sonderberichterstatter teilen die Sorge, dass es sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf inklusive Bildung handelt und haben den Fall zu ihrer Sache gemacht. Es handelt sich um den Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und den Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung. Das lässt vermuten, dass auch das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde der Klägerinnen noch einmal gründlicher prüfen wird.
Die detaillierte Darstellung des Einzelfalls mündet in drei Aufforderungen der Sonderberichterstatter an die Bundesregierung. Die Bunderegierung möge Stellung beziehen und eventuell zusätzliche Informationen zu dem dargestellten Sachverhalt abgeben. Sie möge die einzelnen Schritte klären, die dafür Sorge tragen, dass die Schülerin so schnell wie möglich eine inklusive Regelschule an ihrem Wohnort mit der notwendigen individuellen Unterstützung und angemessenen Vorkehrungen besuchen kann. Sie wird gebeten, Informationen darüber zu beschaffen, wie das Kindeswohl und die Beteiligungsrechte der betroffenen Schülerin, die sich sehr klar für eine inklusive Schule ausgesprochen habe, in dem Prozess, der zu ihrer Überweisung in eine segregierte Förderschule führte, von den Behörden und dem Ergänzungspfleger des Jugendamtes berücksichtigt wurden
Über den Einzelfall hinaus
Es ist leider kein Einzelfall, dass die elterliche Wahrnehmung des Rechts auf inklusive Bildung als „Kindeswohlgefährdung “ von Behörden und Schulen umgedeutet und damit ausgehebelt wird, wie Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, als Obfrau im Petitionsausschuss bestätigt: „Wenn Schulen sich mit Jugend- oder Sozialämtern zusammentun, kann das ‘Elternwahlrecht‘ vollends zur Makulatur werden. Denn welche ‘Wahl‘ besteht noch, wenn unter dem Deckmantel des Kindeswohls Kinder zu Störfaktoren erklärt werden?“
Auch die Bildungspolitik und die Sonderpädagogik konstruieren gerne ein Spannungsverhältnis zwischen inklusiver Bildung und dem Kindeswohl. Damit legitimieren sie den Erhalt des Sonderschulsystems.
Mit der Aufforderung der Sonderberichterstatter an die Bundesregierung, das Verhalten des Jugendamtes zu überprüfen, wird gegenüber all denen, die mit dem Argument des Kindeswohls die Rechte des Kindes auf inklusive Bildung unterlaufen, die „rote Karte“ der Menschen- und Völkerrechtsverletzung gezeigt. Die Sonderberichterstatter haben eindeutig festgestellt, dass inklusive Bildung dem Kindeswohl entspricht und mit angemessenen Vorkehrungen für den Einzelfall ohne Verzögerung im Sinne von Artikel 24 der UN-BRK umzusetzen ist. Die Erwiderung der Bundesregierung steht noch aus.