NRW, im August 2020
I. Bildungsgeschichtlicher Rückblick für den Aufbruch in die Zukunft
Bildung und die entsprechenden Einrichtungen waren immer schon - nicht nur in Deutschland - ein Spiegel der Gesellschaft und des in ihr vorherrschenden Menschenbildes. Die Geschichte zeigt, welche Machtverhältnisse und Werte zu welchen Bildungschancen führten.
Im europäischen Mittelalter war Bildung allein in den Händen der Kirche. Wer Gott an seiner Seite hatte, hatte natürlich zu bestimmen, wer in den Genuss von Bildung kam und welcher Art diese Bildung war. Obwohl die Kirche damals auch zusätzlich weltliche Macht besaß, brauchte sie das Bündnis mit dem Adel als umfassender weltlicher Macht. Kirche und Adel bestätigten und beschützten sich dann gegenseitig und erlaubten erst nach vielen Jahrhunderten dem reichen Bürgertum als dritter Macht im Staat den Zugang zu umfangreicher Bildung. Die große Mehrheit der Gesellschaft, die einfachen Bürger, Handwerker, Bauern, Arbeiter und Tagelöhner blieben da weitgehend ausgeschlossen. Frauen hatten eine dienende, untergeordnete Rolle zu spielen. Da war umfassende Bildung eher unerwünscht. Heute haben die Mädchen und jungen Frauen ihre männlichen Konkurrenten beim Bildungserfolg zwar überholt. Ihre besseren Qualifikationen schützen sie aber nicht davor, bei Einkommen und Führungspositionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gegenüber den Männern immer noch benachteiligt zu werden.
Selektion und Selektionsdenken in Verbindung mit Obrigkeitsdenken in einer auf Ungleichheit angelegten Gesellschaftsordnung haben eine lange Tradition in Deutschland. Am furchtbarsten und unvorstellbar menschenverachtend verbrecherisch wurden die Auswirkungen dieses Selektionsprinzips durch die Rassenideologie im Nazi-Deutschland. Schwer kranke und als „unbrauchbar“ bezeichnete Menschen wurden ermordet und sog. erbkranke HilfsschülerInnen wurden zwangssterilisiert.
Chancen und Versuche für grundlegende Veränderungen ergaben sich nach historischen Großkatastrophen wie dem 1. und dem 2. Weltkrieg, als das autoritäre Kaiserreich und die verbrecherische Nazi-Diktatur jeweils ihr gewaltsames Ende fanden. Aber in den Anfängen der Weimarer Republik unterlagen auf der Reichsschulkonferenz 1920 die fortschrittlichen Erneuerer den konservativen Kräften, während nach dem 2. Weltkrieg der Versuch der alliierten Siegermächte scheiterte, das mehrgliedrige Schulsystem abzuschaffen. Auch die Bildungsreform Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre hat daran grundsätzlich nichts geändert. Der wesentliche nachhaltige Gewinn daraus sind die Gesamtschulen, die viele SchülerInnen bis heute vor falschen Bildungsprognosen und vorzeitiger Ausgrenzung bewahren.
Bis heute hat sich das aus dem 19. Jahrhundert stammende „Märchen von den drei Begabungen“, die die Menschen bezüglich ihrer Bildungsfähigkeit angeblich unterscheiden, hartnäckig in den Köpfen gehalten. Es spiegelte sich lange in der klassischen Dreigliedrigkeit des Schulsystems präzise wider. Dieses Menschenbild dient weiterhin als nicht hinterfragte Begründung für die Aufteilung der SchülerInnen nach Klasse 4 in unterschiedliche Schulformen - mit dem Gymnasium als der „höheren“ Schule und den anderen Schulformen, die geringer bewertet werden. Aus diesem gegliederten Regelschulsystem werden Kinder mit Behinderungen sogar in Sonderschulen exkludiert und erfahren, durch die als Hilfe deklarierte „Sonderbehandlung“, lebenslänglich wirkende Ausgrenzung, Kränkungen und Benachteiligungen.
Seit fast 2000 Jahren gibt es Kritik an falschen Methoden und Zielen von Bildung. „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!“, kritisierte schon im Jahre 62 n. Chr. der römische Philosoph und Lehrer Seneca in einem Brief an seinen Schüler Lucilius das lebensferne Theoretisieren, statt den gesunden Menschenverstand für ein lebenswertes Leben zu entwickeln. Von Selbstbestimmung, ganzheitlicher Bildung zur Entfaltung der Persönlichkeit für ein erfolgreiches und glückliches Leben in Freiheit sind heutige SchülerInnen immer noch weit entfernt. Es ist normal, für den nächsten Test, die nächste Klausur, die nächste Prüfung aus reinem Pragmatismus im Stile des Bulimielernens zu pauken, um den gewünschten Notenschnitt zu erreichen und dann vieles wieder zu vergessen.
Der Blick zurück zeigt eindeutig: So kann und darf es nicht weitergehen, wenn wir die Verpflichtungen aus dem Grundgesetz und den Menschenrechten tatsächlich ernst nehmen.
II. Mut zur Veränderung – Eine Schule für alle!
Durch die Corona-Pandemie sind die Defizite unseres Schulsystems schonungslos aufgedeckt worden.
Die bestehende soziale Chancenungleichheit im Schulsystem ist durch „Homeschooling“ aufgrund der sehr unterschiedlichen Ressourcen der Familien sogar noch verschärft worden.
Die Corona-Krise hat auch den unsinnigen Zwang zur Gleichzeitigkeit und Gleichschrittigkeit des Lernens nach vorgeschriebener Lern- und Leistungsnormierung aufgedeckt. Dieser Zwang verstößt gegen den grundlegenden Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen und ihrer individuellen Menschenwürde.
Deshalb fordert das NRW-Bündnis „Eine Schule für alle“ von der Landesregierung und dem Landtag, den bildungspolitischen Rahmen für personalisiertes und gemeinsames Lernen aller SchülerInnen ohne Aussonderung und Systembruch nach Klasse 4 zu entwickeln. In einem ganzheitlichen Bildungskonzept, das vom einzelnen Kind ausgeht, nehmen Kinder und Jugendliche ihr Recht wahr, ohne Vorbehalte und Diskriminierung Mitverantwortung für ihre Lern- und Bildungsprozesse selbständig auszuüben.
Ziel muss sein, dass alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von Herkunft und individuellen Merkmalen, ihr individuelles Potenzial erreichen. Verantwortungsübernahme für das eigene Leben, das friedliche gesellschaftliche Miteinander und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung erfordert zukunftsfähiges Wissen und demokratische Handlungskompetenzen.
Dafür:
- muss das bisherige enge schulische Fächerkorsett in Jahrgangs-klassen gesprengt werden.
- müssen SchülerInnen und LehrerInnen befreit werden von unsinnigem Bulimielernen. Helfende und positive soziale Beziehungen müssen in Schulen entwickelt und erlebt werden können.
- müssen Klassenwiederholungen und Abschulungen abgeschafft werden.
- muss Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams und mit außerschulischen Partnern gesichert sein.
- muss nützliche Technik zu pädagogischen Zwecken selbst-verständlich zur Verfügung stehen und allen zugänglich sein.
- sollten regelmäßige Praktika, jahrgangs- und fächerübergreifendes Lernen den Bildungsweg prägen. Über den Lernprozess und die individuell erbrachten Leistungen geben Portfolios Auskunft. Sie vermitteln ein persönliches Profil, das ohne unsinnige Ziffernnoten und ausgrenzende unfaire Bewertungen auskommt.
- müssen konsequenterweise auch Abschlüsse – bislang gebunden an Herkunft und Ergebnis von Konkurrenz, Selektion und Ausgrenzung - in Anerkennung der jeweiligen Bildungslaufbahn vergeben werden, wie es die Achtung vor der Würde des jeweiligen einzelnen Menschen erfordert.
Die Entwicklung einer solchen Anerkennungskultur sorgt für umfassende Freiheit sowie Bildungsgerechtigkeit und sichert Bildungserfolg für alle – unter den erschwerten Bedingungen in der Coronazeit und in der Zukunft. Unsere Gesellschaft braucht diesen demokratischen Quantensprung ins 21. Jahrhundert, jede(r )Einzelne braucht ihn für ein gelingendes Leben.
Darüber umfassend aufzuklären und bewusstseinsbildend zu wirken, erfordert gemeinsame Anstrengungen aller politisch Verantwortlichen.