von Brigitte Schumann
Klaus Klemm hat statistisch nachgewiesen, dass Deutschland das Inklusionsziel der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verfehlt. Dass NRW in der Inklusionsbilanz noch schlechter abschneidet als der Bundesdurchschnitt, zeigt eine Sonderauswertung.
Maßstab für die Bewertung der schulischen Inklusion ist den Autoren Prof. Helen Knauf und Dr. Marcus Knauf die Vorgabe der UN-BRK, das Sonderschulsystem abzubauen. Sie haben die Entwicklung im Zeitverlauf von 2009 bis 2017 unter Berücksichtigung der neuesten Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2018 analysiert und zeigen sich „überrascht und ernüchtert“ über den quantitativen Befund für NRW.
Kaum Fortschritte beim Abbau des Sonderschulsystems bei anhaltend hoher Separation
Ausgewählt haben sie NRW u. a, weil die rot-grüne Landesregierung (2010-2017) des bevölkerungsreichsten Flächenlandes in Deutschland dem Ausbau der Inklusion höchste bildungspolitische Priorität eingeräumt hatte. Außerdem war in keinem anderen Bundesland die politische Kontroverse zu Inklusion in den letzten Jahren so heftig geführt worden wie in NRW. Man erinnere sich daran, dass bei der verlorenen Landtagswahl 2017 die schwarz-gelbe Koalition mit der Parole „Rettet die Förderschulen!“ punkten konnte.
Viel Lärm um nichts angesichts des tatsächlichen geringen Abbaus der separaten Förderung von Kindern mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf, möchte man meinen.
Die aktuelle Separationsquote in NRW weist einen Rückgang von 5,3% auf 4,7% innerhalb von 10 Jahren auf. Sie bleibt damit noch hinter dem mageren bundesdurchschnittlichen Ergebnis von 4,3% zurück. Lediglich im Förderschwerpunkt Lernen sind mit der Halbierung des Anteils der Schülerinnen und Schüler, die eine Sonderschule besuchen (an allen SchülerInnen mit Vollzeitschulpflicht) deutliche Fortschritte gemacht worden. Der Rückgang der Schülerzahlen im Bereich Lernen wird aber durch Zuwächse bei allen anderen Förderschwerpunkten kompensiert. Das gilt besonders für die Schwerpunkte Geistige Entwicklung und Emotionale und soziale Entwicklung.
Auffällig im Vergleich zu anderen Bundesländern ist neben dem geringen Abbau die anhaltend hohe Separation. Die Separation in NRW ist höher als im Bundesdurchschnitt. Selbst Länder, die in der Vergangenheit eine besonders hohe Separationsquote aufwiesen, haben sich wie Mecklenburg-Vorpommern stark verbessert.
Die Vermehrung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen – eine Vortäuschung von Inklusion?
Für alle Bundesländer weisen Knauf/Knauf nach, dass der sonderpädagogische Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern (Sonderschulen und allgemeine Schulen) seit dem Inkrafttreten gestiegen ist. Im Bundesdurchschnitt beträgt der Zuwachs 20%. Hier liegt NRW mit einem Anstieg um 30% weitaus darüber. In Zeiten der Inklusion gibt es also immer mehr Kinder, die eine Behinderung offiziell diagnostiziert und attestiert bekommen.
Die Inklusionsanteile in NRW sind stark angestiegen und haben sich fast vervierfacht. Kam 2009 auf 116 Schülerinnen und Schüler eine Schülerin oder ein Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, so liegt die Relation 2017 bei 29:1.
Die Autoren sind der Frage nachgegangen, wie sich die wachsende Zahl der Kinder zusammensetzt, die in allgemeinen Schulen sonderpädagogisch gefördert werden und die die KultusministerInnen zur Kennzahl für den Inklusionserfolg gemacht haben. Nach der Modellrechnung von Knauf/Knauf verdankt sich der Inklusionsanteil nur zu einem Viertel den Schülerinnen und Schülern aus den Förderschulen. Zu drei Vierteln ist er auf die Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen zurückzuführen, die dort zusätzlich als förderungsbedürftig diagnostiziert werden. Das sind ca. 31 000 Schülerinnen und Schüler, während es im Bundesdurchschnitt 90 000 sind. Dieses Phänomen gibt es in allen Bundesländern, aber in NRW ist es „überdurchschnittlich ausgeprägt“, so die Autoren.
Haben sich die Lebensverhältnisse in Deutschland so dramatisch verändert? Gibt es eine veränderte Praxis der Diagnostik? Und falls ja, wodurch wurde dieser Wandel ausgelöst? Die Autoren wollen die Ursachen dafür, dass immer mehr Kinder der allgemeinen Schule förderungsbedürftig sind, nicht genau festlegen. Gibt es mehr Genauigkeit und Sensibilität bei der Überprüfung des Bedarfs? Haben die Hemmungen zu etikettieren abgenommen, da die Überweisung zur Sonderschule nicht mehr automatisch erfolgt? Welche Rolle spielt dabei der Ressourcengewinn für die Schulen? Knauf/Knauf mahnen, dass dieser Sachverhalt problematisiert und analysiert werden muss.
Ihr kritisches Fazit aus der Untersuchung lautet: „Dem nordrhein-westfälischen Sozial- und Bildungssystem ist es nicht gelungen, die durch die UN BRK deutlich formulierte Aufgabe (Abbau der Segregation und hochwertige Inklusion) zu bewältigen; stattdessen wurden die Ressourcen in Nordrhein-Westfalen besonders stark dafür verwendet, bei immer mehr Schülerinnen und Schülern sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen und für diese Maßnahmen einzuleiten.“
Sonderpädagogische Diagnostik und Etikettierung in der Kritik
Prof. Wocken hat sehr plausibel dargelegt, dass es gute Gründe gibt zu der Annahme, dass die Sonderpädagogik sich zum „Ressourcenbeschaffer“ der allgemeinen Schule macht. Nach seiner Analyse findet nur eine „Pseudo-Inklusion“ statt, denn „schwache und schwierige Risiko- und Problemschüler werden mit Hilfe einer wissenschaftlich fragwürdigen sonderpädagogischen Diagnostik als „besonders“ gelabelt und für Stigmatisierungsprozesse „freigegeben“, während die Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen um ihre Inklusion in der Regelschule betrogen werden.
Die Willkürlichkeit ihrer Diagnostik wird der Lernbehindertenpädagogik schon seit langem vorgehalten. Sie verfüge nicht über valide wissenschaftliche Kriterien, um eine scharfe Abgrenzung von pädagogischem und sonderpädagogischem Förderbedarf vorzunehmen, lautet die Kritik. Die „Lernbehinderung“, die aus der „Hilfsschulbedürftigkeit“ hervorgegangen ist, werde rein schulorganisatorisch bei einem Lern- und Leistungsabstand definiert, der so erheblich ist, dass die allgemeine Schule dem Kind nicht gerecht werden kann.
Bei den Förderschwerpunkten der Lern- und Entwicklungsstörungen (Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung, kurz LES) kommt hinzu, dass es vielfache Überlappungen bei den standardisierten Intelligenztests gibt, so dass die Wahl, welcher Förderschwerpunkt dem Kind zugeschrieben wird, bei den sonderpädagogischen Gutachtern liegt.
Auch die Abgrenzung zwischen den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung erweist sich, wie das Beispiel von Nenad M. beweist, in der sonderpädagogischen Praxis als höchst problematisch.
Zudem stellt sich aus inklusionspädagogischer Sicht die Frage nach dem Sinn sonderpädagogischer Gutachten, die in Zeiten der Zwangsüberweisung zur Sonderschule genau diese legitimieren sollten. Die menschenrechtliche Verpflichtung, das Recht auf inklusive Bildung diskriminierungsfrei für alle Kinder umzusetzen, lässt die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs mit der daran gebundenen Etikettierung als überholt erscheinen.
Perspektive: „Neuausrichtung der Inklusion“
Seit 2017 gibt es mit dem Regierungswechsel eine schwarz-gelbe Mehrheit, die bildungspolitisch angetreten ist, die Inklusion neu zu ordnen. Während die rot-grüne Vorgängerregierung ohne strategischen Plan für die Prozesssteuerung und den Ressourceneinsatz Inklusion im Land ermöglichte und dabei hoffte, dass sich über das Elternwahlrecht der Abbau des Sonderschulsystems wie von selbst ereignen würde, hat die neue Bildungsministerin den Schwerpunkt auf das Sonderschulsystem gesetzt.
Mit dem Argument, allen Eltern ein Wahlangebot bieten zu wollen, ist die Schließung von kleinen Sonderschulen, die längst die Mindestgrößen unterschreiten, für die nächsten fünf Jahre ausgesetzt worden. Damit sollen die Schulträger genügend Zeit haben, den institutionellen Erhalt zu organisieren. Wo dies nicht möglich ist, sollen Fördergruppen an allgemeinen Schulen gebildet werden. Das teure Doppelsystem sonderpädagogischer Förderung, das die Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte als Verstoß gegen die UN-BRK heftig kritisiert, soll unbedingt erhalten bleiben.
Die Vorrangpolitik für das Sonderschulsystem zeigt sich auch in der Ressourcenzuweisung nach Schüler-Lehrer-Relation für die Sonderschulen, während wegen des Mangels an Sonderpädagogen die allgemeinen Schulen mit inklusiver Ausrichtung nur auf dem Papier eine Verbesserung ihrer Stellensituation zugesichert bekommen. Die jetzt schon bestehende Ungleichwertigkeit in der Ausstattung wird das Wahlrecht für viele Eltern zu einer leeren Formel machen.
Mit der Bündelung knapper Ressourcen an „Schwerpunktschulen“ im Sekundarbereich wird das Angebot an Gemeinsamem Lernen ausgedünnt, Gymnasien werden ausgenommen von der Verpflichtung, zieldifferenten Unterricht anzubieten. Mit dieser Privilegierung kann sich das Gymnasium als „höhere Schule“ darstellen, die keine SchülerInnen mit Lernbehinderung aus dem unterprivilegierten Milieu aufnehmen muss. Ein fatales Statement für eine Gesellschaft, die der Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet sein will.
Knauf/Knauf konnten in ihrer Analyse feststellen, dass die Dynamik, die die UN-BRK ausgelöst hatte, inzwischen einer Stagnation gewichen ist. Mit der „Neuausrichtung der Inklusion“ wird die inklusive Schulentwicklung in den nächsten Jahren weiter stagnieren bzw. sich rückläufig entwickeln, vermuten auch die Autoren.
Perspektive: Zivilgesellschaftlicher Aufbruch
Dieser Entwicklung stellt sich in NRW das „Bündnis pro Inklusion“ entgegen, dem 40 Organisationen angehören. Das NRW-Bündnis „Eine Schule für alle“ setzt sich mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), dem Grundschulverband (GSV), der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) und der Aktion Humane Schule (AHS) auf Bundesebene dafür ein, dass das Recht auf inklusive Bildung als Menschenrecht ausgelegt wird. Es gilt für alle und muss entsprechend in einer inklusiven Schule für alle verwirklicht werden. Sie haben sich in der „Frankfurter Erklärung“ 2016 dazu verpflichtet, „an der Überwindung des gegliederten Schulwesens mitzuarbeiten und dafür gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen“.