von Brigitte Schumann
Während die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Schwerpunkt „Lernen“ erheblich zurückgegangen ist, ist die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogisch diagnostizierten emotionalen und sozialen Entwicklungsproblemen merklich gestiegen.
Prof. Klaus Klemm hat diese Entwicklung im Jahresvergleich von 2008/09 bis 2016/17 statistisch nachgewiesen. NRW liegt dabei voll im Trend. Bundesweit ist der Anteil der Kinder mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf „Lernen“ an allen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesem Zeitraum um 7 % auf 36,5% gesunken und in NRW sogar um 12 % auf 30,4%. Begleitet wird dieser Trend auch von einem Rückgang der Exklusionsquote. Die Chancen dieser Kinder, im Regelschulsystem zu verbleiben, sind deutlich gestiegen.
„Mehr Inklusion von Kindern mit Lernhandicaps“ titelte die Bertelsmann Stiftung jüngst in einer Pressemitteilung euphorisch und befand, dass die Inklusion in Deutschland besonders in dem Förderschwerpunkt „Lernen“ deutlich vorankommt. „Deutschland findet damit Anschluss an internationale Standards. In den meisten Ländern werden Kinder mit Lernschwierigkeiten seit langem in den Regelschulen unterrichtet“, hieß es in der Verlautbarung.
Leider vergaß die Stiftung , die gegenläufige Entwicklung im Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ zu erwähnen. Der Anteil der Kinder mit dieser sonderpädagogischen Diagnose ist bundesweit von 11,5% auf 16,6 % gestiegen. In NRW ist der Anstieg noch steiler ausgefallen, und zwar von 15,2% auf 23,3%. Die Exklusionsquote für diesen Förderschwerpunkt ist nicht gesunken.
Die „Verlagerung“ zwischen den Förderschwerpunkten
Im Gegensatz zur Bertelsmann Stiftung ist die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer alles andere als begeistert über die statistische Entwicklung bei den Kindern im Förderschwerpunkt „Lernen“. Drohen ihr doch bei den beträchtlich rückläufigen Schülerzahlen die Förderschulen „Lernen“ oder – wie sie früher hießen – die Sonderschulen für Lernbehinderte wegzubrechen.
Mit einer Verordnung über die Mindestgrößen versucht das Schulministerium, den flächendeckenden Erhalt dieses Sonderschultyps mit allen erdenklichen Mitteln krampfhaft zu sichern. Erklärend für den Rückgang der Förderquote im Bereich „Lernen“ wird in der Verordnung u.a. der Anstieg im Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ und „Geistige Entwicklung“ angeführt. Ergänzend heißt es dazu: „Zudem ist die Zuordnung bei den Förderschwerpunkten der Lern- und Entwicklungsstörungen nicht immer eindeutig, und es kommt zu einer Verlagerung zwischen den Förderschwerpunkten.“
Zweifelhafte Validität und Objektivität der sonderpädagogischen Diagnostik
Ganz sicher unbeabsichtigt hat das Schulministerium mit dieser Formulierung selbst Zweifel an der sonderpädagogischen Diagnostik begründet und damit der berechtigten Kritik an den sonderpädagogischen Gutachten aus jüngster Zeit neue Nahrung verliehen.
Erinnert sei an den Fall Nenad M., der fälschlicherweise als „geistig behindert“ eingestuft wurde, 11 Jahre auf der Sonderschule für „Geistige Entwicklung“ verbringen musste und so in seiner Lernentwicklung extrem behindert wurde. Die Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen das Land NRW konnte er schließlich gewinnen.
Prof. Hans Wocken prangert die leichtfertige Handhabung der sonderpädagogischen Diagnostik scharf an. Sie ermöglicht, dass Kinder, die früher als schwache Schülerinnen und Schüler mit Lern-und Leistungsproblemen in den Grundschulen akzeptiert waren, seit der Ratifizierung der UN-BRK immer häufiger als „behindert“ etikettiert werden und als „Inklusionskinder“ den Schulen Ressourcen einbringen. Er nennt das Resultat eine durch „Etikettierungsschwemme“ herbeigeführte „Pseudo-Inklusion“ und spricht von „sonderpädagogischer Verseuchung“ der allgemeinen Schulen.
Die sonderpädagogischen Gutachten im Licht der empirischen Forschung
Brigitte Kottmann hat in ihrer 2006 veröffentlichten Dissertation sämtliche Gutachten, die im Schuljahr 1999/2000 zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in einem Schulamt in NRW durchgeführt wurden, für die Förderschwerpunkte „Lernen“, „Sprache“ und „Verhalten“ wissenschaftlich untersucht. Insgesamt wurden 167 Gutachten ausgewertet.
Resümierend stellt sie fest, dass die Entscheidung, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, in der Hauptsache auf standardisierten Intelligenztests basiert, die als Legitimation für den Förderschwerpunkt herangezogen werden. Dabei hängen die gemessenen IQs sehr stark von der Wahl der Testverfahren ab, die eine große Streuung aufweisen.
Bei den Testergebnissen, so Kottmann, schneiden die Kinder mit dem zugeschriebenen Förderbedarf „Lernen“ am schlechtesten ab, aber bei allen drei Förderschwerpunkten gibt es Überlappungsbereiche. Ab einem IQ von 80 ergeben sich regelmäßig Grenzfälle, „d.h. ab hier ist es mit jedem Testergebnis möglich, sowohl sonderpädagogischen Förderbedarf (mit allen drei Förderschwerpunkten) zu bekommen, als auch als Regelkind ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in der Grundschule zu verbleiben“.
Sonderpädagogische Freiräume
Wer denkt, das war gestern, der irrt. Auch heute werden bei den sonderpädagogischen Feststellungsverfahren Intelligenztests benutzt und es ist den Sonderpädagogen überlassen, welchen sie einsetzen. Immer noch werden zeitaufwändige, bürokratische Verfahren in Gang gesetzt, die sich an einem statischen Begabungsbegriff orientieren und den Kindern mit der Zuordnung zu einem Förderschwerpunkt einen negativen Stempel aufdrücken, den sie meistens nie wieder loswerden. Folgt man Kottmanns Erkenntnissen, dann werden „Verlagerungen“ zwischen den Förderschwerpunkten durch die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit ermöglicht, die den Sonderpädagogen bei der Bewertung der Testergebnisse zur Verfügung stehen,
Die soziale Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nach Gutsherrenart verletzt das Recht auf inklusive Bildung nach der UN-Behindertenrechtskonvention fundamental. Diese diskriminierende Praxis steht zu dem Recht auf inklusive Bildung in einem krassen Widerspruch. Besteht doch der menschenrechtliche Anspruch von Inklusion darin, jedes Kind in seiner Individualität anzuerkennen und eben nicht auf ein Merkmal oder eine Gruppenzugehörigkeit zu reduzieren,
Diagnostik nach Opportunität
Wo die Gründe für den Trend liegen, bei den Entscheidungen über den sonderpädagogischen Förderbedarf vermehrt auf den Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ und weniger auf „Lernen“ zu setzen, deutet sich in der Mitteilung der Bertelsmann Stiftung an. Im Zusammenhang mit der statistischen Entwicklung von Kindern mit Lernschwierigkeiten stellt sie fest, dass Deutschland damit „Anschluss an internationale Standards“ findet, denn in „den meisten Ländern werden Kinder mit Lernschwierigkeiten seit langem in den Regelschulen unterrichtet“.
Es ist bei den sonderpädagogischen Gutachtern und der Schulaufsicht inzwischen offensichtlich angekommen, dass es außerhalb von Deutschland nicht üblich ist, Kinder mit Lernschwierigkeiten als „lernbehindert“ zu klassifizieren und in Sonderschulen zu unterrichten, in denen 90 % der Kinder einen Armutshintergrund haben.
Zudem wirkt auch die Aufklärung von Prof. Dagmar Hänsel. Sie hat in ihren Forschungsarbeiten sonderpädagogische Kontinuitäten nach 1945 über die Zusammenhänge zwischen der „Hilfsschulbedürftigkeit“ im Nationalsozialismus, der „Lernbehinderung“ und dem heute umständlich bezeichneten sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“ sichtbar gemacht.
Aus Gründen der bildungspolitischen Opportunität liegt es daher nahe, bei Gutachten zurückhaltender mit der Verteilung des sonderpädagogischen Etiketts „Lernen“ umzugehen und verstärkt den Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ ins Spiel zu bringen, zumal auch die Exklusion der damit klassifizierten Schülergruppe aus der allgemeinen Schule in der Öffentlichkeit kaum umstritten ist.
Für den Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ muss dringend überprüft werden, ob sich die sonderpädagogische Praxis herausgebildet hat, auch sozial deprivierte Kinder diesem Förderschwerpunkt vermehrt zuzuordnen. Nicht nur der Fall von Nenad deutet darauf hin, sondern auch der Anstieg der Förderquote im Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“.
Konsequenzen
Das gesamte Sonderschulsystem mit all seinen Förderschwerpunkten zügig und planvoll abzubauen, ist für die Umsetzung der UN-BRK zentral. Dafür braucht es endlich einen national abgestimmten, verbindlichen Aktionsplan.
Kurzfristig machbar und zwingend geboten ist das Auslaufen der Sonderschulen für Kinder mit Lern- und Entwicklungsproblemen. Die freiwerdenden sonderpädagogischen Ressourcen werden für die inklusive Entwicklung zu den allgemeinen Schulen transferiert. Der niedersächsische Landesrechnungshof hat in seiner Modellrechnung die positiven Effekte dieser Maßnahme für die Fördermöglichkeiten in den allgemeinen Schulen beziffert.
Mit dem Auslaufen der Sonderschultypen „Lernen“, „Emotionale und soziale Entwicklung“ und „Sprache“ werden auch die entsprechenden Förderschwerpunkte und das sonderpädagogische Feststellungsverfahren abgeschafft. Die Kinder mit Lern- und Entwicklungsproblemen sind Kinder der allgemeinen Schule und werden dort pädagogisch gefördert, Die Basis dafür ist eine ressourcenorientierte inklusive Diagnostik, die sich bewusst von der defizitorientierten sonderpädagogischen Diagnostik unterscheidet. Im Zentrum steht ausschließlich die Frage, was das einzelne Kind für seine Lern- und Persönlichkeitsentwicklung braucht, um die nächste Stufe seiner Entwicklung zu erreichen.
Alle Schulen müssen Kinder mit pädagogischem Förderbedarf aufnehmen und sie zu den ihnen möglichen Abschlüssen führen.
Alle Schulen bekommen eine Grundausstattung für die Förderung dieser Schülerinnen und Schüler. Die zusätzliche sozialindizierte Personal- und Ressourcenzuweisung berücksichtigt die tatsächliche soziale Zusammensetzung der Schülerschaft der einzelnen Schule.
Die Überprüfung der Gutachten im Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ muss von einer unabhängigen Kommission durchgeführt werden.
Für alle anderen Förderschwerpunkte muss geprüft werden, ob die bestehenden Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs unter dem menschenrechtlichen Aspekt von Inklusion noch angemessen und vertretbar sind.