Das Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission will mit seinen Empfehlungen die basalen Kompetenzen benachteiligter Kinder stärken und der zunehmenden sozialen Ungleichheit im Kompetenzerwerb von benachteiligten und privilegierten Kindern entgegentreten. Sind die Vorschläge hilfreich?
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), als „unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium“ von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingerichtet, hat am 09.12. ihr Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ mit Empfehlungen an die Bildungspolitik öffentlich gemacht. Es thematisiert Fragen der Ausgestaltung von Lern- und Bildungsprozessen in Kita und Grundschule in Verbindung mit den dafür notwendigen Rahmenbedingungen als Reaktion auf die negativen Befunde der aktuellen bundesweiten Grundschul-Vergleichsstudie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
Zentrale Empfehlung
Der Anteil der Viertklässler:innen, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik laut IQB-Bildungstrend verfehlen, hat seit 2016 signifikant zugenommen und die Leistungsschere im Kompetenzerwerb von benachteiligten und privilegierten Kindern ist noch weiter aufgegangen. Die Empfehlungen der SWK zielen darauf, dass möglichst alle Grundschulkinder die basalen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen zur Erreichung der Mindeststandards als Voraussetzung für eine erfolgreiche Lernbiografie und eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe erwerben. Diese angepeilte langfristige Zielperspektive verdient die volle und uneingeschränkte Unterstützung. Allerdings vergisst die SWK, dass die Grundschulen zur Förderung und Unterstützung benachteiligter Kinder vor dem Hintergrund der Armutsentwicklung in Deutschland umgehend eine massive personelle und finanzielle Unterstützung benötigen.
Zur Zielerreichung stellt das Gutachten die flächendeckende und verbindliche Implementierung eines Konzepts zur systematischen Diagnose und Förderung basaler Kompetenzen auf der Ebene des Unterrichts in das Zentrum seiner Empfehlungen. Es soll im Schulprogramm verankert werden. Die SWK versteht das Konzept als Teil der konsequenten KMK-Strategie, mit der das Bildungsmonitoring auf der Systemebene (durch internationale und nationale Leistungsstudien) und auf Klassen- und Schulebene (durch bundesweite Vergleichsarbeiten, VERA) auch auf der Unterrichtsebene durch individualdiagnostische Verfahren erweitert und weiterentwickelt wird.
Das Gutachten fordert zur Umsetzung der Diagnose- und Förderkonzeption die „Bereitstellung von wissenschaftlich fundierten, qualitätsgesicherten diagnostischen Instrumenten und darauf bezogenen Förderinstrumenten“. Es fordert „die Implementation forschungsbasierter Fortbildungsprogramme zur diagnosebasierten Förderung der basalen Kompetenzen“ für Lehrkräfte. Die Ausführungen dazu machen deutlich, dass den erprobten informellen pädagogischen Verfahren zur Diagnostik und Förderung im Grundschulunterricht wie Lernbeobachtung und individuelle Leistungsrückmeldung durch die Lehrkraft zukünftig eine geringere Bedeutung gegenüber dem Einsatz und der Nutzung standardisierter wissenschaftlicher Tests und evidenzbasierter Förderprogramme zugeschrieben wird.
Die SWK vollzieht mit der neuen Ausgestaltung schulischer Lehr- und Lernprozesse einen fragwürdigen Paradigmenwechsel auf Kosten der (Grundschul-)Pädagogik und zu Gunsten einer einseitigen Priorisierung von Methoden der quantitativen empirischen Forschung zur Leistungsmessung und-bewertung. Das führt in der Gesamtbetrachtung dazu, dass durchaus bedenkenswerte oder sogar positive Empfehlungen des Gutachtens dahinter zurücktreten wie bspw. die Priorisierung von Schulen in herausfordernden Lagen bei der indexbasierten Ressourcenzuweisung nach dem Grundsatz „Ungleiche ungleich behandeln“.
Auf dem Weg zu RTI?
Um die frühzeitige Identifikation von Förderbedarf und die gezielte Unterstützung zur Sicherung basaler Kompetenzen für möglichst alle Kinder zu ermöglichen, empfiehlt das Gutachten gestufte Diagnose- und Fördermodelle und verweist in dem Zusammenhang auch auf das Modell „Response-to-Intervention“ (RTI). RTI stellt ein in den USA entwickeltes sonderpädagogisches Diagnose- und Förderkonzept dar. Es ist bisher in Deutschland vereinzelt, aber noch nicht flächendeckend implementiert worden. Es wird jedoch von der sonderpädagogischen Forschung hierzulande favorisiert und der Bildungspolitik angedient.
Das Konzept vollzieht sich in der Grundschule auf drei Stufen. Auf Stufe 1 werden frühzeitig alle Kinder einer Klasse auf ihren Lernstand überprüft. Auf Stufe 2 werden Kinder, die von der angenommenen Norm abweichen, evidenzbasiert in Kleingruppen gefördert und die Wirkung dieser „Interventionen“ wird regelmäßig mit standardisierter Lernverlaufsdiagnostik überprüft. Respondiert das Kind nicht auf die Interventionen, hat es einen sonderpädagogischen Förderbedarf und erfährt auf Stufe 3 eine intensivierte sonderpädagogische Einzelförderung.
Argumente gegen RTI
Die Konzeption wird aus der Perspektive der Grundschul- und Inklusionspädagogik vehement abgelehnt. Gegner:innen des Modells kritisieren, dass RTI auf einer kontextlosen Diagnostik ohne pädagogische Bezüge zur Lebenswelt der Kinder und einem technologisch verhafteten Förderkonzept basiert, das Objektivität, Eindeutigkeit und Wissenschaftlichkeit lediglich suggeriert.
Im krassen Widerspruch zu inklusiver Pädagogik steht für sie die deutlich behavioristische Vorstellung des RTI-Modells von linearen Lern- und Leistungsverläufen, die mit Tests kontrolliert und mit Interventionen von außen gesteuert werden. Kinder werden zu passiven Objekten einer defizitorientierten Förderung gemacht. Es werden hierarchische Beziehungen zwischen Expert:innen und Kindern konstruiert.
Nach Auffassung des Grundschulverbandes sollen anstelle standardisierter Tests als diagnostisches Instrument zur Ermittlung von Lernständen dialogische Formen durch den Einsatz von Selbsteinschätzungsbögen, Portfolios und Lerngesprächen genutzt werden. Sie sind geeignet, die individuellen Kompetenzen des Kindes herauszufinden und die nächsten Schritte der Entwicklung zu fördern. Förderung muss sinnhaft für das Kind und in den Lernprozess der Klasse eingebettet sein.
Lediglich aus Sicht der Sonderpädagogik stellt die Umsetzung von RTI einen Gewinn dar. RTI hilft, in den Grundschulen gezielt sonderpädagogische Förderbedarfe zu ermitteln und die Ergebnisse mit dem Hinweis auf den hohen Anspruch eines diagnosebasierten und datengestützten wissenschaftlichen Förderkonzeptes zu legitimieren. RTI bietet zusätzlich den Vorteil, dass die als schädliche „Selektionsdiagnostik“ in die Kritik geratenen Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs damit entbehrlich werden.
Verschwiegene strukturelle Diskriminierung
Bleibt die Problematik der Schulstruktur und der in ihr verankerten Leistungsselektion ausgeblendet, werden Diskriminierung und Privilegierung beim Kompetenzerwerb in der Grundschule nicht überwunden, sondern fortgesetzt.
Das Gutachten der SWK verschweigt mit seinen Vorschlägen zur Sicherung von Bildungschancen für alle Kinder, dass das selektive Schulsystem vorhandene gesellschaftliche Ungleichheit und Armut reproduziert. Der besonders drastische Anstieg von Armut in NRW, den der WDR in seinem Digitalatlas Armut abgebildet hat, geht mit ungünstigen Leistungsentwicklungen und vermehrter Bildungsarmut im IQB- Bildungstrend für NRW einher. Warum verschweigt die SWK die wissenschaftlich längst nachgewiesene strukturelle Benachteiligung sozial benachteiligter Kinder durch frühe Leistungselektion?
Reproduktion von Ungleichheit durch frühe Leistungsselektion
„Je früher die Kinder aufgeteilt werden, desto stärker hängt der Bildungserfolg vom jeweiligen familiären Hintergrund ab. Die Datenlage zeigt deutlich, dass spätere schulische Selektion die Chancengleichheit erhöht. Gleichzeitig geht spätere Selektion nicht mit einem geringeren Leistungsniveau einher, so dass sich kein Hinweis auf einen offensichtlichen Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Effizienz in der Organisation des Schulsystems ergibt.“ Zu dieser Schlussfolgerung kommt Ludger Wößmann, anerkannter Wirtschaftswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Bildungsökonomie, nach seiner Auswertung internationaler und nationaler Leistungsstudien. Dagegen steht immer noch das deutsche bildungspolitische Credo, dass in leistungshomogenen Gruppen bessere Lernerfolge für alle möglich sind und deshalb die Aufteilung nach Leistung möglichst früh erfolgen soll. Die SWK schweigt dazu.
Für die Leistungsselektion werden Notenzeugnisse mit vergleichenden Ziffernnoten ab Klasse 3 maßgeblich. Vergleichende Noten sind jedoch aus wissenschaftlicher Sicht völlig ungeeignet als Aussage über den individuellen Leistungsstand. Sie sind höchst unfair, weil sie die Hintergründe für die erbrachte Leistung nicht berücksichtigen und damit sozial benachteiligte Kinder gegenüber den privilegierten Kindern benachteiligen. Sie wirken demotivierend, beschämend und beschädigend. Sie führen zu Schulunlust und Selbstzweifel. Die SWK schweigt dazu.
Ziffernnoten legitimieren immer noch eine Klassenwiederholung, eine der unwirksamsten und eher kontraproduktivsten Maßnahmen zur Leistungsverbesserung, wie wissenschaftlich nachgewiesen. Sie legitimieren immer noch die Einleitung sonderpädagogischer Feststellungsverfahren. Immer mehr benachteiligte Kinder werden mittels fragwürdiger Statusdiagnostik als sonderpädagogisch förderbedürftig etikettiert, stigmatisiert und auch aus der Grundschule exkludiert. Am Ende der Grundschulzeit liefern sie Begründungen von zweifelhaftem prognostischem Wert für verbindliche oder unverbindliche Grundschulempfehlungen zu den weiterführenden Schulen. Die SWK schweigt dazu.
Langes gemeinsames Lernen anstelle von „Strukturbruch“
Offiziell heißt das, was nach Klasse 4 am Ende der Grundschulzeit den Kindern zugemutet wird, „Übergang“. Diese Bezeichnung ist ein Euphemismus, denn es handelt sich um einen willkürlichen Strukturbruch, der mit keiner pädagogischen Theorie begründet werden kann, wohl aber pädagogische Beziehungen und Freundschaften zwischen Kindern auflöst. Er geht zurück auf einen politischen Kompromiss, der vor rund 100 Jahren im „Reichsgrundschulgesetz“ getroffen wurde.
Dass der Strukturbruch von Grundschule und weiterführender Schule in einem schulstufen- und schulformübergreifenden Modell überwunden werden kann, beweisen die in wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen erfolgreich erprobten Berliner Gemeinschaftsschulen und die PRIMUS-Schulen in NRW. Dort lernen Schüler:innen unabhängig von individuellen Merkmalen gemeinsam von Jahrgangsstufe 1-10 bzw. 1-13.
Verlängerung der Grundschulzeit – die Perspektive für alle Kinder
Schulen, die mindestens bis zum Ende der Vollzeitschulpflicht gemeinsames Lernen ermöglichen, sichern allen Kindern erhebliche Lernfortschritte unabhängig von Herkunft und familiärem Hintergrund. Als solidarisches, demokratisches und inklusives Schulmodell stärken sie Kinder mit Armutserfahrung, Migrationsgeschichte und Behinderung, ohne dass die großen kompensatorischen Effekte Nachteile für die Leistungsentwicklung von Schüler:innen aus begünstigten Elternhäusern bedeuten. Sie sind ein fundamentaler Beitrag zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Dennoch zeigt die Bildungspolitik bislang kein erkennbares Interesse an der gezielten Verbreitung und Implementierung dieses Modells. Ihr Interesse am Erhalt des selektiven Schulsystems, das privilegierte Kinder privilegiert und benachteiligte Kinder benachteiligt, scheint mit Rücksicht auf gesellschaftliche Interessen größer als die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Die SWK verhält sich dazu indifferent.
Brigitte Schumann (12/2022)