Gestaltung einer sozial gerechteren Schulbildung im laufenden und den kommenden Schuljahren

Sehr geehrte Frau Schulministerin Gebauer,

im zweiten Schuljahr unter Coronabedingungen macht sich auch die Gesamtschulstiftung große Sorgen um die körperliche und die psychische Gesundheit und die Bildung der Schulkinder. In diesem Brief gehen wir auf aktuelle Fragestellungen ein. Ein Schreiben zu längerfristigen Forderungen und Vorschlägen folgt demnächst.

Uns fällt auf, dass viel über die Auswirkungen der Lockdowns auf Kinder und Jugendliche gesprochen wird, insbesondere auch über die sozial dramatisch ungleichen Folgen, aber von Regierungsseite nur sehr wenig über Handlungsweisen, die über Lockdown, Digitalisierung und Prüfungen hinausgehen.

Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf Aspekte, die die dramatisch zugespitzte soziale Schieflage eines ohnehin sozial ungerechten Schulsystems in den Blick nehmen und aktuell eine Abmilderung des Problems ermöglichen könnten.

Der Verzicht auf verordnete Schuljahreswiederholung sowie auf Abschulungen ist im Gespräch und unseres Erachtens nach dringend geboten. Jedoch: So geboten, so unzureichend.

Wir halten zusätzlich folgende Maßnahmen für erforderlich:

Verzicht auf Prüfungen am Ende der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II. Wie auch immer sie gestaltet würden: einige Zeit später, aus größerem Aufgabenpool etc., sie können niemals unter gleichen Bedingungen stattfinden wie in den Schuljahren bis 2019. Stattdessen bedeutet die aktuell geplante Konzentration auf Unterricht für diese Jahrgänge, dass andere Jahrgänge außen vor bleiben. Das dürfte nicht nur die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte vervielfältigen. Dass Jugendliche gerade im Pubertätsalter Aufmerksamkeit, Zuwendung, ja: und auch Gleichaltrige brauchen, war bisher unumstritten.

Deshalb appellieren wir an Sie,

  • in diesem Schuljahr auf Abschlussprüfungen zu verzichten, stattdessen Abschlusszeugnisse auf der Basis bisheriger Leistungen zu erteilen, unter Verweis auf die besonderen Bedingungen. Letzteres halten wir aus dem Grund für zwingend erforderlich, da Abschlusszeugnisse oft noch zwei bis drei Jahrzehnte später vorzulegen sind. Sie müssen auch dann noch selbsterklärend sein.

  • sicherzustellen, dass die so ausgestellten Abschlusszeugnisse bundesweit anerkannt werden

  • alle Jahrgänge in gleicher Weise nach den jeweils lokal vertretbaren Bedingungen gleich zu behandeln

 

Maßnahmen gegen die extreme soziale Schieflage: Die Ausstattung mit digitalen Endgeräten ist natürlich notwendig, löst aber keines der damit verbundenen Probleme, wenn sinnvolle Begleitprogramme fehlen. Deshalb schlagen wir vor:

 

  • Studierenden anzubieten, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. Dies wird unserer Ansicht nach viele positive Effekte auslösen. Viele Studierende sind in große finanzielle Not geraten, da viele Nebenverdienstmöglichkeiten entfallen. Eine bezahlte Beschäftigung gibt nicht nur den Lehramtsstudierenden Erfahrungsmöglichkeiten im späteren Beruf. Auch ihre finanziellen Sorgen können reduziert werden. Kinder und Jugendliche, die zunächst von Schulen der Standorttypen 4 und 5 benannt werden, können so personell und kompetent gefördert werden. Die Gesamtschulstiftung ist gerne bereit, realitätsgerechte Konzepte mitzuentwickeln. Wir hoffen, dass die Reduktion der sozialen Schieflage auch der Landesregierung ein wichtiges Anliegen ist und sie für eine entsprechende attraktive und verlässliche Finanzausstattung eines entsprechenden Landesprogramms sorgt.

  • Ebenfalls durch Studierende durchzuführen sind - neben genannter außerunterrichtlicher Unterstützung - Doppelbesetzungen im Unterricht, kognitiv und sozial ausgerichtete Ganztagsangebote, Einführungen in die Nutzung von digitalen Medien, zunächst dort, wo die soziale Situation es am dringlichsten macht (Orientierung an den Standorttypen).

Problembeschreibungen und Untersuchungen liegen inzwischen in derart großem Umfang vor, dass gezielte Hilfen gezielt ermöglicht werden können, sofern der politische Wille gegeben ist.

Sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer, wir appellieren dringend an Sie, die genannten kurzfristig möglichen und wirksamen Maßnahmen zu ergreifen, damit die aktuelle Schüler*innengeneration die Erfahrung machen kann, dass sie im Blick ist, dass sie zählt, dass ihr geholfen wird. Dabei ist es erforderlich, nach dem Prinzip zu verfahren, dass ungleiche, nämlich benachteiligende, Bedingungen ungleiche, nämlich verstärkte Fördermaßnahmen rechtfertigen. Ein formaler Gleichheitsbegriff kann hier nicht am Platz sein.

 

Mit freundlichen Grüßen, hoffend auf Berücksichtigung unserer Vorschläge

Ingrid Wenzler, Vorsitzende der Gesamtschulstiftung