Ein Rückblick auf unsere Bildungsgeschichte für den Schritt in eine bessere Zukunft
von Werner Plack
(26.4.2020)
Lebenserhalt und Gesundheitsschutz in Zeiten der Corona-Krise zeigen, dass es möglich ist,
Menschen auch unter schwierigen Bedingungen zum Zusammenhalt zu bringen. Gegensätze,
Unterschiede und Schwierigkeiten gemeinsam zu überwinden, wo grundlegend
Menschliches es erfordert, macht uns alle stark, kostet zunächst Kraft und Mut, ermöglicht
dann aber auch Fortschritt für Gesellschaft, Demokratie und jeden Einzelnen. Das Recht auf
uneingeschränkte Bildung und selbstbestimmte Teilhabe gehört als Menschenrecht und
Lebensgrundlage genauso für jeden zu einem lebenswerten Leben wie das Recht auf Leben
und Gesundheit.


Bildung und die entsprechenden Einrichtungen waren immer schon - nicht nur in
Deutschland - ein Spiegel der Gesellschaft und des in ihr vorherrschenden Menschenbildes.
Die Geschichte zeigt uns, welche Machtverhältnisse und Werte zu welchen Bildungschancen
führten. Der kurze Blick zurück öffnet uns hoffentlich die Augen für unsere jetzige Situation
und macht den entscheidenden Schritt nach vorn erst wirklich möglich.
Am Anfang war Bildung allein in den Händen der Kirche. Wer Gott an seiner Seite hatte,
hatte natürlich zu bestimmen, wer in den Genuss von Bildung kam und welcher Art diese
Bildung war. Obwohl die Kirche damals auch zusätzlich weltliche Macht, sprich Reichtum und
militärische Macht, besaß, brauchte sie das Bündnis mit dem Adel als umfassender weltlicher
Macht. Kirche und Adel bestätigten und beschützten sich dann gegenseitig und erlaubten
erst nach vielen Jahrhunderten dem reichen Bürgertum als dritter Macht im Staat den
Zugang zu umfangreicher Bildung. Die große Mehrheit der Gesellschaft, die einfachen Bürger,
Handwerker, Bauern, Arbeiter und Tagelöhner blieben da weitgehend ausgeschlossen. Sie
bedurften keiner besonderen Bildung, wie die Mächtigen entschieden. Von den Frauen ganz
zu schweigen. Sie hatten sowieso eine dienende, untergeordnete Rolle zu spielen. Da war
umfassende Bildung eher unerwünscht.
Frauen hatten nicht nur im autoritären Kaiserreich des 19. Jahrhunderts weniger Rechte und
schlechtere Bildungschancen als Männer. Ihre Möglichkeiten, zu lernen, zu studieren, ihren
Beruf selbst zu bestimmen und zu arbeiten waren bis weit in die 1960er Jahre stark
eingeschränkt, ob in der Weimarer Republik, der Nazi-Herrschaft oder der Bundesrepublik
Deutschland. Vom ersten Mädchen-Gymnasium 1893, dem umfassenden universitären
Zugang 1908, der Abschaffung des Lehrerinnen- und Beamtinnen-Zölibats 1957 bis zur
gemeinsamen Unterrichtung von Mädchen und Jungen als Standard in Schulen seit der
Bildungsreform 1968 war es ein weiter Weg. Heute haben die Mädchen und jungen Frauen
ihre männlichen Konkurrenten beim Bildungserfolg sogar überholt. Seit vielen Jahren werden
jährlich mehr männliche Babys geboren als weibliche. Die allgemeine Hochschulreife
erwarben 2017 jedoch mit 54,4 % deutlich mehr Frauen als Männer. Im Durchschnitt also
bessere Qualifikation als Männer zu haben schützt in unserer Gesellschaft Frauen aber nicht
davor, bei Einkommen und Führungspositionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik immer
noch benachteiligt zu werden. Trotz aller anderslautender Lippenbekenntnisse.

Wie geht unsere Gesellschaft denn tatsächlich mit den Menschen um? Sind Würde, Freiheit,
Bildungsgerechtigkeit und bedingungslose Teilhabe gelebte Werte, die für alle gleichermaßen
gelten? Leider nicht!
Ein schlimmes Beispiel, das mit seiner traurigen Tradition bis heute aktuell ist, sind die Kinder
am untersten Ende der Bildungshierarchie. In den heutigen Förderschulen sind mit 65,1 %
(2018) Jungen die Gruppe, die besonders um ihre Würde und Rechte gebracht werden. Auch
für die 34,9 % Mädchen ist natürlich die Schande der Ausgrenzung nicht weniger leidvoll.
Selektion und Selektionsdenken in Verbindung mit Obrigkeitsdenken in einer festgefahrenen
Gesellschaftsordnung haben eine lange Tradition in Deutschland. Zuerst nannte man es 1846
die „Betreuung Schwachsinniger“, dann wurden daraus „Hilfsklassen für schwachsinnige
Kinder“ und „Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder“. „Sonderschulen“ und jetzt
„Förderschulen für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf“. So ist ihre sprachlich
beschönigende Bezeichnungsentwicklung. Den aussortierten und entrechteten Kindern
wurde und wird unter dem Deckmantel einer besonders hilfreichen Behandlung scheinbar
die Hilfe einer Gesellschaft zuteil, die ihnen zugleich lebenslänglich wirkende Ausgrenzung,
Kränkungen und Benachteiligungen zufügt.
Am furchtbarsten und unvorstellbar menschenverachtend verbrecherisch wurden die
Auswirkungen dieses Selektionsprinzips im Nazi-Deutschland. Schwer kranke und nicht mehr
für die Gesellschaft brauchbare und durch die Hilfsschule förderbare Kinder erhielten eine
„Sonderbehandlung“. Wie wir alle wissen, brachte sie ihnen den Tod, wie vielen Tausenden
Jugendlichen und Erwachsenen auch, die aus irgendeinem Grund als „nicht lebenswert“
aussortiert worden waren, von denen die Gesellschaft, ihre Angehörigen und auch sie selbst
angeblich „entlastet“ wurden. Schlimmste Verbrechen konnten begangen werden. Positiv
verfälschende Formulierungen halfen auch dabei, Verantwortung zu verschleiern und
Schuldverdrängung auf allen Seiten zu ermöglichen. Doch das dürfen wir nicht vergessen.
Aus dieser Vergangenheit müssen wir lernen - in ganz Deutschland!
Wozu Ausgrenzung also führen kann, sollte uns eindringlich vor Augen bleiben, wenn wir
heute Ausgrenzung erleben oder sogar selbst praktizieren, weil sie ja auch bei uns bis heute
besonders in der Bildung staatlich vorgeschrieben ist und weil „es immer schon so war“.
Dabei sollte jedem klar sein, dass es dafür überhaupt keine Rechtfertigung oder einen
vermeintlich positiven Vorwand geben kann. Die Verantwortung liegt bei jedem von uns,
nicht nur beim Staat.
Unsere Geschichte hat uns geprägt. Seit unseren Ur-Ur-Großeltern wurden wir bis heute
erzogen und gebildet in einem Wertesystem, das im Wesentlichen durch Zwang zur
Anpassung an mächtige vorgegebene Hierarchien unterschiedlichster Art gekennzeichnet war
und tatsächlich immer noch ist. Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung, Zwang
verbunden mit psychischer Gewalt statt Freiheit mit gerechten Chancen zur Entwicklung aller
Potenziale und vorbehaltloser Teilhabe aller. Aus dem 19. Jahrhundert hat sich das „Märchen
von den drei Begabungen“, die die Menschen bezüglich ihrer Bildungsfähigkeit angeblich
unterscheiden, bis heute hartnäckig in den Köpfen gehalten. Daraus hatten sich damals die
prinzipiell drei Bildungswege abgeleitet. Und dieses Menschenbild dient vor allem
konservativ „christlichen, liberalen und populistischen“ Selektionsverteidigern noch heute als
nicht hinterfragte Begründung für unser mehrgliedriges Schulsystem. Sie formulieren das so:
„Wir wollen eine Stärkung der Schulformen.“ Tatsächlich ist das jedoch eine sprachliche
Tarnung für ihre Stärkung von Ausgrenzung. In einer Demokratie des 21. Jahrhunderts
natürlich ein bildungs- und menschenfeindlicher Nonsens! Ein Widerspruch in sich!

Seit fast 2000 Jahren gibt es Kritik an falschen Methoden und Zielen von Bildung. „Non vitae
sed scholae discimus!“ „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!“, kritisierte
im Jahre 62 n. Chr. der römische Philosoph und Lehrer Seneca in einem Brief an seinen
Schüler Lucilius, wie lebensfern eitles Theoretisieren ist statt den gesunden
Menschenverstand für ein lebenswertes Leben zu entwickeln. „Du lernst nicht für die Schule,
sondern für’s Leben!“, behaupteten und ermahnten dann fast 2000 Jahre später viele Eltern
und LehrerInnen lernunwillige SchülerInnen, die nach dem Sinn ihres fremdbestimmten
Lernens suchten, mit der Umkehr des Satzes von Seneca. Als pure Heuchelei empfinden ihn
heutige SchülerInnen, wenn sie gerade für den nächsten Test, die nächste Klausur, die
nächste Prüfung aus reinem Pragmatismus im Stile des Bulimielernens pauken, um ihren
gewünschten Notenschnitt zu erreichen und dann vieles wieder zu vergessen.
Selbstbestimmung, ganzheitliche Bildung zur Entfaltung der Persönlichkeit in Vielfalt für ein
erfolgreiches und glückliches Leben in Freiheit waren immer schon ein Problem für die
Menschen. Der Widerspruch zu den gesellschaftlichen Zwängen, die sich ja aus den
Interessen der Herrschenden ergaben, war nicht zu überwinden.
Kritiker und Reformer der letzten Jahrhunderte haben manches bewirkt und sind bis heute
durchaus mit ihren Gedanken und Taten im Bewusstsein vieler Menschen. Jan-Jaques
Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi, Wilhelm von Humboldt, Maria Montessori, Peter
Petersen, Rudolf Steiner und Alexander Sutherland Neill, um nur einige zu nennen, haben
Spuren in unserer Bildungskultur hinterlassen. Das deutsche Bildungssystem haben sie nicht
so verändert, dass Ausgrenzung und Fremdbestimmung abgeschafft werden konnten.
Chancen und Versuche für grundlegende Veränderungen ergaben sich nach historischen
Großkatastrophen wie dem 1. und dem 2. Weltkrieg, als das autoritäre Kaiserreich und die
verbrecherische Nazi-Diktatur jeweils ihr gewaltsames Ende fanden. Aber nach der
Oktoberrevolution 1918 unterlagen bei der Reichsschulkonferenz 1920 die fortschrittlichen
Erneuerer den konservativen herrschenden Kräften ebenso, wie nach dem 2. Weltkrieg der
Versuch der alliierten Siegermächte scheiterte, das mehrgliedrige Schulsystem abzuschaffen.
Die Deutschen, zumindest die im Westen, wollten ihre Schulhierarchie und die damit
verbundenen Ausgrenzungen mit ihrer langen Tradition behalten. Und das, wo sie doch die
Folgen von menschenverachtenden Ausgrenzungen und schlimmsten Vergehen gegen die
Menschenrechte unterschiedlichster Art gerade erlitten hatten. Millionenfachen Tod und
unsagbares Verderben in Deutschland und der ganzen Welt hatten sie mit zu verantworten!
Eine andere Bildung ohne Hierarchie und Selektion als einen Aufbruch in eine neue bessere
Zukunft wollten sie aber nicht. Das konnten und wollten sie offensichtlich nicht aus der
Geschichte, das heißt aus ihrem eigenen Handeln, lernen.
So ist es bis heute geblieben.
Auch eine Bildungsreform 1968 und Anfang der 1970er Jahre hat daran grundsätzlich nichts
geändert. Der wesentliche nachhaltige Gewinn daraus sind die Gesamtschulen, die für viele
SchülerInnen bis heute zu ihrem Glück eine Rettung aus falschen Bildungsprognosen und
deren vorzeitiger Ausgrenzung sind. Einige punktuelle Reförmchen gab es im Laufe der
letzten 50 Jahre noch. Aber, wenn es mal positiv menschliche und sinnvolle Ansätze gab, wie
zum Beispiel die Gleichwertigkeit aller Fächer in Verbindung mit einer Oberstufenreform,
dann sind sie bis heute durch konservative Kräfte weitgehend rückgängig gemacht worden.
Der Blick zurück zeigt eindeutig: So kann und darf es nicht weitergehen!

Die Corona-Krise macht es möglich. Menschen und ihre Politiker gehen gemeinsam neue
Wege, die bisher keiner kannte. Eine „neue Normalität“, die anders sein muss, die aber auch
besser sein kann als die alte. Das ist eine einmalige große Chance. Das ist die historische
Chance, vor allem für die Bildung!
Kitas, Schulen, Hochschulen und Unis können nicht mehr so funktionieren wie früher. In den
nächsten zwei Jahren ist es de facto unmöglich, so weiter zu machen wie bisher.
Gesundheitsschutz für alle, immer wieder nicht vorhersehbare notwendige
Quarantänepausen und nicht zu vermeidende Corona-Erkrankungen verhindern vielleicht
sogar noch länger, dass alle junge Menschen gleichzeitig mit ihren Altersgenossen auf ihrem
jeweiligen Bildungsweg vorankommen können.
Dieser falsche Zwang zur Gleichzeitigkeit von vorgeschriebenem Lern- und Leistungsstress für
Menschen, die jeder für sich alle anders sind als alle anderen, ist sowieso Unsinn und
verstößt gegen den grundlegenden Respekt vor ihrer individuellen Menschenwürde.
Millionenfache Unterschiede bei Begabungen und Interessen verbunden mit einem

Unterschied von ca. drei Jahren bei der körperlichen und geistigen Entwicklung im Kindheits-
und Jugendalter verbieten es geradezu, das zu ignorieren. Vielfalt dagegen zu achten und

allen Menschen ohne Vorbehalte und Barrieren die ihnen gemäße Bildung zu ermöglichen,
wird jetzt durch Corona quasi faktisch erzwungen.
SchülerInnen, Studierdende, LehrerInnen und Eltern müssen von den Zwängen des falschen
zeitgleichen Lernens und der gegen ihre Rechte verstoßende Selektion erlöst werden. Die
Bildungseinrichtungen sind einfach nicht groß genug. ErzieherInnen, LehrerInnen und
ProfessorInnen gibt es nicht genug. Sie können in reduzierter Zahl, weil ihre Risikogruppe
auch geschützt werden muss, nicht mehr als doppelt so viel arbeiten, weil sie aus
Sicherheitsgründen nur die Hälfte ihrer Gruppen zu unterschiedlicher Zeit betreuen müssen.
Das geht absolut nicht! Auch nicht mit digitalen Hilfsmitteln. Jeder weiß das!
Die Lösung gibt es! Sie ist nur grundlegend anders, als das, was wir kennen und gewohnt
sind. Aber der Mut und die Kraft, etwas anders zu machen, weil Corona uns zwingt, es anders
zu tun, sind in einer solchen Krise von den Menschen und den verantwortlichen
PolitikerInnen jetzt schon in vieler Hinsicht aufgebracht worden. Wenn wir etwas wie die
Bildung für alle nun den entscheidenden Schritt in eine erfolgreiche Zukunft machen lassen,
dann gewinnen wir alle – jeder Einzelne, die Gesellschaft und die Wirtschaft. Aus einer Not
geboren ergibt sich ein nachhaltiger Gewinn.
Personalisiertes Lernen und selbstbestimmte Bildung in einem ganzheitlichen Konzept mit
digitalen Hilfsmitteln auf allen Altersstufen und Anforderungsebenen muss losgelöst von
zeitlichen und inhaltlichen Ausgrenzungsmaßnahmen für alle ohne Vorbedingungen
garantiert sein. So wird sichergestellt, dass alle ihr individuelles Potenzialmaximum
erreichen. Fachwissen wird in Kompetenzrastern oder Level-Stufen von 1 bis zum höchsten
Niveau ohne Zeitstress nach freiwilliger Entscheidung erworben. Es hat aber weniger
Gewicht als die für das Leben und die Arbeit viel wichtigeren Schlüsselqualifikationen, die
Soft Skills, die auf dem Bildungsweg durch ständige Praktika und fächerverbindende
Projektarbeit erworben werden. Kompetenzen oder Level brauchen keine Noten. Soft Skills
kann man nicht benoten. Versetzungen und Prüfungen braucht keiner. Abschlüsse werden in
Anerkennung der jeweiligen gesamten Bildungslaufbahn für das erreichte Niveau vergeben.
Eine Anerkennungskultur statt der alten Selektionskultur macht es möglich, sorgt für
umfassende Freiheit und Bildungsgerechtigkeit. Unsere Demokratie wird nachhaltig gestärkt.
Bildungsfreiheit statt Bildungszwang! Corona sorgt für die historische Chance!