Die wissenschaftlichen Empfehlungen zu den sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in NRW schreiben segregierende Strukturen der Sonderpädagogik fort. Angepasst an Methoden der empirischen Sonderpädagogik sollen sie Wissenschaftlichkeit und grundlegenden Wandel suggerieren. Eine kritische Einordnung.
Ausgangspunkt für die aktuell veröffentlichten Empfehlungen ist der wissenschaftliche Prüfauftrag, den die Landesregierung zur steigenden Anzahl von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im September 2022 an sieben Expert:innen erteilt hat. Sie vertreten mehrheitlich die Sonderpädagogik.
Die Ergebnisse des Prüfauftrags
Die Ergebnisse des gemeinsamen Gutachtens lauten knapp zusammengefasst: Die derzeitige Verfahrens- und Gutachtenpraxis zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs in den untersuchten Förderschwerpunkten Emotionale und soziale Entwicklung (ESE), Geistige Entwicklung (GE), Lernen (LE) und Sprache weist erhebliche Mängel auf, die schon seit Langem empirisch belegt sind. Es fehlen Standards für die Gutachtenerstellung und einheitliche Verfahrensvorgaben. Die Gutachten zeigen „eine starke Varianz in inhaltlicher Aussagekraft, fachlicher Orientierung und Fundierung“. Sie reproduzieren Benachteiligungs- und Stigmatisierungseffekte, sie sind kein Beitrag zu Chancengerechtigkeit und Inklusion. Der Anstieg der sonderpädagogischen Förderquote ist auf die Gutachtenpraxis zurückzuführen. Die Verknüpfung der Ressourcenzuweisung an die amtliche Statusfeststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs – auch als Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma bezeichnet – wird angesichts der Problemlagen der allgemeinen Schulen zur schulischen Entlastung und zur Ressourcenbeschaffung in prekären schulischen Situationen eingesetzt.
Ausbau von Prävention im allgemeinen Bildungssystem
Der Grundgedanke der Gutachter:innen für eine grundsätzliche Verbesserung ist einfach und wirkt bestechend: Die sonderpädagogische Unterstützung soll unabhängig von formalen Feststellungsverfahren durch die Zuweisung von zusätzlichen Lehrkräften und Sonderpädagog:innen sichergestellt werden, damit Schulen ihren Auftrag für individuelle Förderung und Prävention erfüllen können. Die präventionsorientierte Ressourcensteuerung – z.B. nach Sozialindex – soll die Qualität schulischer Bildung verbessern und so zur Reduktion der sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfe beitragen.
Die präventive Gesamtstrategie im allgemeinen Schulsystem binden die Gutachter:innen an ein Regime von verpflichtenden Maßnahmen. Dazu gehören aus ihrer Sicht u. a. frühzeitige und regelmäßige „universelle Screenings zur Erfassung der sozialen, emotionalen, lernbezogenen, sprachlichen und verhaltensbezogenen Situationen aller Schülerinnen und Schüler“ als Ausgangspukt für gezielte Diagnostik und Förderung.
Die Unterrichtsgestaltung und der Einsatz von Diagnose -und Förderinstrumenten sollen sich stärker an wissenschaftlich erprobten und evidenzbasierten Methoden und standardisierten Programmen der empirischen Sonderpädagogik ausrichten.
Die Lernentwicklung aller Schüler:innen soll lernprozessbegleitend in digitalisierter Form zusammen mit den individuell eingesetzten Maßnahmen zur Prävention und Förderung präzise dokumentiert werden.
Wenn die Förderangebote zu keiner langfristigen Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten bei der Schülerin oder dem Schüler geführt haben, ist eine spezialisierte sonderpädagogische Unterstützung angezeigt. Soweit also der im Gutachten abgesteckte Rahmen für die zentralen präventiven Maßnahmen.
Völlig unkonkret und vage bleibt die Empfehlung des Gutachtens, „die Entwicklung und Implementation eines Diagnoseinstruments und -prozesses zur Feststellung systemischer Barrieren in den Schulen“ vorzusehen.
Zur Rolle der Prävention
Der Präventionsbegriff wird zweifellos von den Gutachter:innen bewusst zentral eingesetzt. Mit seiner positiven Konnotation hat er die Funktion eines Türöffners für alle damit begründeten Maßnahmen. Plakativ gefragt: Warum soll das Kind erst in den Brunnen fallen, wenn mit der verstärkten Präventionsorientierung der Schaden verhindert werden kann? Damit auch die andere Seite der Prävention mit den Aspekten der Normalisierung und sozialen Kontrolle nicht zu kurz kommt, wäre es angezeigt, dass die Empfehlungen die Gefahr mitreflektieren, dass „Kinder vorschnell entlang von Risikofaktoren sortiert werden und ein erster Schritt zur diagnostischen Identifizierung und Verfestigung der Trennlinien zwischen ,normalen‘ und ,nicht-normalen‘ Schüler: innen entsteht, die dann durch Konzepte der Intervention weiter ausgebaut werden.“ (Pfahl/Powell 2016).
Mit der Behauptung des Gutachtens, die empirische sonderpädagogische Forschung verfüge über wirksame evidenzbasierte Methoden der Prävention, die aber in den allgemeinen Schulen kaum oder noch gar nicht angekommen seien, werden mögliche Zweifel an den sonderpädagogischen Standards der Prävention lediglich pauschal abgetan. Andererseits kann diese Behauptung auch als Feststellung verstanden werden, dass die empirische Sonderpädagogik gegenüber der allgemeinen Pädagogik im Bereich der Prävention und Diagnostik überlegen ist.
Einem gemeinsamen Professions- und Zuständigkeitsverständnis von allgemeinen Lehrkräften und Sonderpädagog:innen in den Schulen, wie von dem Gutachten gefordert, ist dieser Gestus meiner Meinung nach wenig dienlich. Eher begründet er eine hierarchische Rollenverteilung zugunsten der Sonderpädagogik, die für die Methoden der Unterrichtsgestaltung und die Programme der lernprozessbegleitenden Diagnostik und Förderung nach den Empfehlungen zukünftig bestimmend sein soll.
Gestufte präventive Lernprozessdiagnostik
Das Gutachten empfiehlt besonders für die Förderschwerpunkte ESE und LE gestufte standardisierte Diagnose- und Fördermodelle wie das Response-to-Intervention-Modell (RTI). Das sonderpädagogische Konzept vollzieht sich auf mehreren Stufen, die Prof. Gino Casale im Rahmen des Gutachtens am Beispiel des Förderschwerpunktes ESE exemplarisch wie folgt verdeutlicht.
„Die konkrete Umsetzung erfolgt durch evidenzbasierte Diagnose- und Förderstrategien, die auf insgesamt drei Stufen implementiert werden. Auf Stufe 1 fördert die Lehrkraft positives Verhalten und sozial-emotionale Kompetenzen durch effektives Classroom Management sowie durch manualisierte Programme oder Trainings für alle Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig werden regelmäßig universelle Verhaltensscreenings eingesetzt, die eine rechtzeitige Identifikation von problematischen Verhaltensweisen ermöglichen.
Auf Stufe 2 (ca. 20 % aller Schülerinnen und Schüler) fördert die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler durch eine spezifische Kleingruppenförderung (z. B. kognitiv-behaviorale Trainings). Der Fördererfolg wird engmaschig und möglichst zeitnah über Prozess- bzw. Verhaltensverlaufsdiagnostik überprüft (z. B. über die Direkte Verhaltensbeurteilung; Casale et al., 2019). Auf Stufe 3 (ca. 5 % aller Schülerinnen und Schüler) fördert die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler, die auch von der Förderung auf Stufe 2 nicht angemessen profitieren, durch stärker individualisierte Methoden. Gleichzeitig erfolgt eine Analyse der Funktion des problematischen Verhaltens. Auch auf Stufe 3 wird der Fördererfolg engmaschig durch Prozess- bzw. Verhaltensverlaufsdiagnostik überprüft.“
Mit der Einrichtung von regionalen Expertise-Zentren soll nach den Empfehlungen des Gutachtens die Bereitstellung des wissenschaftlich erprobten Materials sowie die Fortbildung und Beratung der allgemeinen Lehrkräfte und der Sonderpädagog:innen gewährleistet werden.
Versteckte Selektionsdiagnostik
Respondiert das Kind auch auf die intensivierte sonderpädagogische Einzelförderung nicht, dann hat es nach der Konzeption der empirischen Lernverlaufsdiagnostik einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Während beim derzeitigen Feststellungsverfahren die Diagnose häufig auf die Auswertung problematischer IQ-Tests angewiesen ist, dürfen sich die sonderpädagogischen Feststellungen nach dem neuen Verfahren als evidenzbasiert behaupten, die daher keinen Widerspruch dulden und sich selbst nicht in Frage stellen.
Die vorgeschlagene Prozessdiagnostik ist wie die derzeitige Statusdiagnostik als sonderpädagogische Selektionsdiagnostik einzuordnen, nur versteckt sie sich methodisch hinter einem präventiven Förderkonzept, das den Anspruch auf Evidenzbasierung und damit auf wissenschaftlich erprobte Wirksamkeit erhebt.
Die stigmatisierende Etikettierung mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf und die Zuordnung zu einem Förderschwerpunkt sind nicht aufgehoben. Sie erfolgen nur am Ende eines längeren Diagnose- und Förderprozesses, wenn sich herausstellt, dass das Kind nicht auf die wissenschaftlich nachgewiesen wirksame Förderung reagiert. Dann werden die Probleme des Lernens und/oder des Verhaltens dem Kind zugeschrieben und nicht der Diagnose- und Förderkonzeption. Und diese kann sich ja gar nicht irren, weil sie ja wissenschaftlich erprobt und evidenzbasiert ist. Dieser Ansatz ist problematisch.
Denn: Die empirische Sonderpädagogik führt mit diesen Praktiken eindeutig das alte sonderpädagogische Modell von medizinischer Behinderung fort. Von einem Wandel des medizinischen Modells zu einem sozial-kulturellen Modell, den das Gutachten selbst fordert, um die Verfahren in Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu bringen, kann definitiv nicht die Rede sein. „Hier ist eine massiv und aggressiv fördernde und fordernde Sonderpädagogik am Werk. Das hat mit Inklusion nicht zu tun“, lautet das Urteil des Inklusionsforschers Prof. Andreas Hinz zum Response-to-Intervention-Ansatz.
Der Vorteil für die Sonderpädagogik liegt auf der Hand: Da die Ergebnisse mit dem Hinweis auf den hohen Anspruch eines diagnosebasierten und datengestützten wissenschaftlichen Förderkonzeptes legitimiert werden, kann dem Vorwurf von Willkür begegnet werden, der derzeit die sonderpädagogische Feststellungsdiagnostik schwer belastet und die Sonderpädagogik in eine Legitimationskrise gebracht hat.
„Sonderpädagogisierung“ der (Grund-)Schule
Das „neue“ Verfahren betrifft alle Schulen, aber ganz besonders die Grundschule. Damit frühzeitig Abweichungen von den Standards festgestellt und die präventive Förderung angesetzt werden kann, werden alle Kinder einer Grundschule regelmäßig von der Sonderpädagogik in den defizitären Blick genommen.
Dieses Vorgehen steht in einem krassen Widerspruch zu grundschulpädagogischer Theorie und Praxis, da es normative Vorgaben setzt, was Kinder einer Altersgruppe können sollen, und die Heterogenität der Kinder einer Grundschulklasse völlig ignoriert. Die Grundschulpädagogik geht vom einzelnen Kind aus und nutzt als diagnostisches Instrument zur Ermittlung von individuellen Lernständen dialogische Formen, um herauszufinden, wo das Kind steht und welche Unterstützung es für die nächsten Schritte seiner Entwicklung braucht. Die Förderung soll sinnhaft und nachvollziehbar für das Kind und in den Lernprozess der Klasse eingebettet sein.
Für mich ist klar: Mit der sonderpädagogischen Konzeption wird der Einfluss der Sonderpädagogik in den Grundschulen noch stärker ausgeweitet, und es besteht die Gefahr, dass die defizitäre und ableistische Sicht der Sonderpädagogik auf das Kind unter dem Dominanzanspruch der empirischen Sonderpädagogik die Lernkultur der Grundschule völlig verändert. Genau davor hat die UNESCO bereits im Jahr 2017 gewarnt, als sie darauf verwies, dass mit der Übernahme sonderpädagogischer Praktiken in den Regelschulen neue und subtilere Formen der Segregation entwickelt werden.
Verstärkung verkrusteter Lernstrukturen
Die Lernverlaufsdiagnostik soll nach dem Gutachten auch in den Schulen der Sekundarstufe Einzug halten, auf alle Schüler:innen angewendet werden und ihre Lernprozesse begleitend steuern. Damit treten die Gutachter:innen offene Türen bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung ein, die zukünftig mit dem Einsatz digitaler Medien lernprozessbezogenen Unterricht und zukunftsfähiges, erfolgreiches „Lernen in der digitalen Welt“ sichern will.
Zukunftsfähiges und selbstwirksames Lernen sieht jedoch anders aus. Unter dem Leitbild von Bildung für inklusive und nachhaltige Entwicklung muss schulisches Lernen aus seiner Fremdbestimmung, seinen starren Vorgaben und den Selektionsmechanismen befreit werden. Mit dem behavioristischen Ansatz der empirischen Sonderpädagogik für die präventive Ausgestaltung der Schulen wird dem verschulten, fremdgesteuerten Lernen eine Renaissance geboten und der transformativen Bildung ein schwerer Riegel vorgeschoben.
Potentialentfaltung durch Heterogenität
Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist Teil der sozialselektiv wirkenden frühen Leistungsselektion, die sich am Leitbild der leistungshomogenen Gruppe orientiert. Sie bestimmt immer noch professionelle Einstellungen, Strukturen und Organisationsformen des allgemeinen Schulsystems und findet ihre verschärfte Fortsetzung im segregierenden Sonderschulsystem.
Dabei ist wissenschaftlich und praktisch die positive Wirkung von Heterogenität belegt. Sie muss allerdings pädagogisch gewollt sein und durch entsprechende Maßnahmen begleitet werden. Das beweisen neben vielen Grundschulen, integrierten Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen, insbesondere die Berliner Gemeinschaftsschulen und die Primus-Schulen in NRW, die mit durchgängigem gemeinsamem Lernen ohne äußere Leistungsdifferenzierung und mit weitgehendem Verzicht auf Noten erfolgreiche Lern- und Leistungsentwicklungen für alle Kinder erzielen.
Der Abbau von heterogenitäts- und inklusionsfeindlicher Selektion durch die Bildungspolitik ist der wichtigste Schritt, um Problemlagen zu reduzieren, die derzeit die Zahl der sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfe in die Höhe treiben. Empfehlungen an die Bildungspolitik gibt das Gutachten dazu nicht.
Ohne historische Perspektive
Da zudem in dem Gutachten die historische Perspektive vollkommen fehlt, wird nicht deutlich erkennbar, dass die sonderpädagogische Diagnostik seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert ihrer Funktion treu geblieben ist. Sie dient (weiterhin) der Klassifizierung von Kindern, der Einteilung in Gruppen und der Legitimation für die „Abgrenzung der als Andere konstruierten Kinder“ (Hänsel 2024). Nur ohne den historischen Kontext können sich die Empfehlungen des Gutachtens für eine evidenzbasierte Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs als grundlegenden Wandel zur derzeitigen Feststellungspraxis gerieren.
Das Gutachten ignoriert die seit den 1970er Jahren bis heute geführte wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit von Lernbehinderung als Behinderungskategorie, die 1994 durch die Bezeichnung Förderschwerpunkt Lernen ersetzt wurde. Die Kritik (Begemann 1970, Klein 1973, Preuss-Lausitz 1976, Sander 1982, Wocken 2000, Hänsel 2003, Pfahl 2011, van Essen 2013, Blanck 2022) an der sonderpädagogischen Diagnose Lernbehinderung besteht im Kern darin, dass sie sich fast ausschließlich auf soziokulturell und sozioökonomisch benachteiligte Schüler:innen bezieht. Ihr Versagen in und an der Schule wird ihrer Intelligenzschwäche zugeschrieben und nicht der Institution Schule angelastet, die mit ihren Normalitätsvorstellungen einen krassen Milieubruch zur Lebenswirklichkeit der betroffenen Kinder darstellt.
Der Streit über die Unrechtmäßigkeit des Förderschwerpunktes ist bis heute nicht beigelegt. Er wird auch innerhalb des Verbands Sonderpädagogik (vds) geführt und hat seinen Ausdruck in einer Streitschrift von vds-Mitgliedern in NRW gefunden, in der die Abschaffung des Förderschwerpunktes Lernen gefordert wird.
Mit der längst überfälligen Abschaffung des willkürlich definierten und in der strukturellen, geschichtsbelasteten Kontinuität zur Hilfsschulbedürftigkeit stehenden Förderschwerpunktes Lernen (Hänsel 2019, 2024), der mit 31 % den größten Anteil an allen Förderschwerpunkten hat, könnten Feststellungsverfahren in dieser Größenordnung entfallen. Über eine systemische Zuweisung von Ressourcen nach Sozialindex müsste der Anspruch auf eine bedarfsgerechte pädagogische Förderung an den allgemeinen Schulen abgesichert werden.
Fehlende menschenrechtliche Perspektive
Aus meiner Sicht wäre die Abschaffung des Förderschwerpunktes Lernen der Einstieg in den menschenrechtlich geforderten Ausstieg aus der Kategorisierung und Klassifizierung von Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen – begleitet von Schritten zu strukturellen, organisatorischen, curricularen Reformen für ein inklusives Schulsystem und eine darauf ausgerichtete inklusive Lehrkräftebildung.
Die Empfehlungen des Gutachtens vermeiden jedoch eine systematische menschenrechtliche Auseinandersetzung mit dem sonderpädagogischen System im Kontext der völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Deutschland mit der UN-BRK im Jahr 2009 eingegangen ist, aber bislang nicht erfüllt. Das segregierende Förderschulsystem, mit dem die amtlichen Feststellungsverfahren bis heute begründet werden, wird ebenso wenig wie das selektive allgemeine Schulsystem, das sonderpädagogische Förderbedarfe erzeugt, grundsätzlich in Frage gestellt.
Die Förderschwerpunkte sollen nach Ansicht des Gutachtens zwar präzisiert werden, aber ihre Funktion wird nicht problematisiert, sondern aufrechterhalten. Als Differenzkonstruktion bestimmen sie Behinderung in Abgrenzung zur Normalität und rechtfertigen sowohl den sonderpädagogischen Förderbedarf als auch die institutionelle Aussonderung in Förderschulen. Sie widersprechen damit dem menschenrechtlichen Paradigmenwechsel, der die Anerkennung von inklusiver Gleichheit in der Unterschiedlichkeit in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fordert.
In krassem Widerspruch zu dem Recht auf inklusive Bildung als Menschenrecht steht die Vorstellung, frühzeitig Kinder zu ermitteln, die in ihrem Lern- und Leistungsverhalten von der gesellschaftlich konstruierten Normalität abweichen, um ihre Lern- und Leistungsverläufe mit Tests zu kontrollieren, mit Interventionen von außen zu steuern und zu passiven Objekten einer defizitorientierten Förderung zu machen.
Brigitte Schumann (Mai 2024)