von Brigitte Schumann

Auch in NRW ist die IQB-Studie zu den enttäuschenden Leistungsergebnissen der Viertklässler in Deutsch und Mathematik von der Bildungspolitik mit Hinweisen kommentiert worden, die die Lösung einseitig in der Verbesserung der Unterrichtsqualität sehen.

Damit wird mehr oder weniger direkt das Problem an den Lehrerinnen und Lehrern der Grundschule festgemacht. Immer wieder wird z.B. die Methode „Lesen durch Schreiben“ dafür verantwortlich gemacht, dass die Basiskompetenzen in Deutsch von Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschulzeit  nicht erreicht werden.

Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland und NRW

Ganz außen vor bleiben in allen Analysen die Armutsentwicklung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Die Nationale Armutskonferenz mahnt seit Jahren regelmäßig, dass die Zahl der armen und armutsgefährdeten  Kinder in einem so reichen Land wie der BRD skandalös ist. Nach dem im September 2017 veröffentlichten Familienreport der Bundesregierung  gelten 2,8 Mio. Kinder in Deutschland als armutsgefährdet.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in seinem Armutsbericht im März 2017 NRW als „besondere Problemregion“ herausgestellt. NRW belegt danach mit der höchsten Armutsquote von  17,5 %  unter den westdeutschen Flächenländern  den schlechtesten Rangplatz. Nur die Stadtstaaten Berlin und Bremen sind mit  22,4 %  bzw. 24, 8%  schlechter platziert.

Besonders auffällig für NRW ist dem Bericht zufolge im Zehnjahresvergleich die drastische Zunahme der Armutsquote um 21, 5 %, die in keinem anderen Bundesland zu verzeichnen ist. Unter armutspolitischen Gesichtspunkten verdient das Ruhrgebiet besondere Aufmerksamkeit, weil die Armutsquote mit 20,2 % über der NRW-Quote von 17,5 % liegt.

Armut als Risikofaktor

Dabei ist nicht nur die individuelle Armut der Kinder, die ihre Ursachen in der familiären Armutssituation hat und mit einer geringeren Verfügbarkeit an Ressourcen für das soziale, kulturelle und materielle Wohlergehen der Kinder einhergeht, entscheidend für die kindliche Entwicklung. Eine  große Bedeutung haben auch die Orte, wo die Kinder leben und wo sie lernen.

In armen Stadtteilen erhöhen sich die Belastungsrisiken für eine gesunde  Entwicklung durch die Wohnraumsituation, durch wenig anregungsreiche Umgebungen und negative, konfliktbehaftete  Quartierseinflüsse. In Kitas und Schulen mit Armutskonzentration sind sie von den sozialen Kontakten zu Kindern aus anderen Milieus weitgehend abgeschnitten und bleiben unter sich.

Entwicklungsfaktor „soziale Vielfalt“

Die Bedeutung der sozialen Vielfalt für die Entwicklung der Kinder im Vorschulbereich haben die Autoren Thomas Groos und Nora Jehles in ihrer Studie herausgestellt, die unter dem Titel „Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern“ im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung zu dem NRW Landesprojekt „Kein Kind zurücklassen“ erstellt wurde. Sie können darin den negativen  Einfluss von Armutskonzentrationen in Kitas auf die Entwicklung von Kindern aufzeigen und belegen, dass „eine starke Ungleichverteilung von Kindern in den Kitas vor allem für sozial benachteiligte Kinder ein zusätzliches Entwicklungshemmnis darstellen kann“. Dieser negative Segregationseffekt gilt auch für den Schulbereich.

Zunahme sozialer Entmischung in Grundschulen

Groos hat beispielhaft an der Ruhrgebietsstadt Mülheim in seiner Studie „Gleich und gleich gesellt sich gern“ (2015) belegt, wie stark die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in Grundschulen  von den sozialräumlichen Disparitäten in unseren Städten geprägt ist. Der Autor kann aber auch nachweisen, dass mit der Einführung der freien Grundschulwahl  unter der schwarz-gelben Landesregierung (2005-2010) die Konzentration armer und sozial benachteiligter Kinder durch die sozial selektive Wahl von Eltern der Mittelschicht an vielen Grundschulstandorten zugenommen hat.

+Gleich+und+geich+geselt+sich+gerne+).Mit dem Regierungewechsel 2010 hat die rot-grüne Landesregierung sich  nicht getraut, die Fehlentscheidung der Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Sie hat die Entscheidung für die  Rückkehr zu verbindlichen Schuleinzugsbezirken den Kommunen in die Hand gegeben. Weder das Schulministerium noch der Städtetag NRW verfügen über statistische Angaben, welche Kommunen davon Gebrauch gemacht haben. Zu vermuten ist, dass diese  Öffnungsklausel gar nicht wahrgenommen wurde, weil auch  Kommunen sich nicht mit einflussreichen Eltern anlegen wollen.

Lösungsstrategien

Schon die OECD hat im Zuge von PISA 2000 über den negativen Einfluss sozial segregierter Schulen auf den Lernerfolg der Schülerschaft aufmerksam gemacht und Hinweise zum bildungspolitischen Umgang mit der Problematik gegeben. Eine empfohlene Strategie setzt bei der Schülerzusammensetzung an und zielt auf soziale De-Segregation. Im Falle der Grundschulen in NRW legt diese Ausrichtung die Wiedereinführung der ehemaligen Schuleinzugsbezirke dringend nahe. Auch bei der Zuweisung von geflüchteten Kindern zu  Grundschulstandorten muss die vorhandene soziale Belastung der jeweiligen Schule als ein Kriterium für kommunale Entscheidungen berücksichtigt werden. Eine weitere Möglichkeit sieht die OECD in einer verstärkten Ressourcenzuweisung für sozial besonders belastete Schulen.

Sozialindex - ein Gebot der Vernunft

Groos  verweist auf den in Mülheim entwickelten und im kommunalen Raum erprobten Sozialindex. Mit dessen Hilfe wird über die soziale Zusammensetzung einer jeden Grundschule in Mülheim anhand der Wohnadressen der Kinder die konkrete Belastung der Schule errechnet und zur Grundlage für eine gerechte kommunale Ressourcensteuerung gemacht. Dieses Verfahren ist ebenfalls ausführlich in einer Publikation im Rahmen der Begleitforschung zum Landesprojekt „Kein Kind zurücklassen“ dargestellt worden. Nach den  Erfahrungen von Groos haben bisher lediglich politisches Zögern und  vorgeschobene Bedenken die landesweite Umsetzung verhindert.

Organisationen wie die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG) und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordern seit langem die Umsetzung des Grundsatzes „Ungleiches ungleich behandeln“. Die GEW in NRW hat 2017 eine Studie herausgegeben, die die Landespolitik dazu auffordert, regionale und  sozialschichtabhängige Disparitäten im gesamten Bildungswesen mit ihren Folgen in den Blick zu nehmen und einen validen schulbezogenen Sozialindex zur Ressourcensteuerung zu entwickeln.

Unter der konservativ-liberalen Landesregierung wurde zum Schuljahr 2008/2009 erstmals in NRW ein Sozialindex eingeführt, der aber als untauglich kritisiert wurde. Unter Rot-Grün wurde das Thema verschleppt. Jetzt hat die  Neuauflage von Schwarz-Gelb die Pflicht, gegen die negativen Folgen wachsender Ungleichheit mindestens mit der Einführung einer fairen sozialindizierten Stellen- und Ressourcenzuweisung für alle Bildungseinrichtungen Flagge zu zeigen.