von Brigitte Schumann
Gesamtschulen und Sekundarschulen in NRW, die „am Wind“ unter erschwerten Standortbedingungen gesellschaftliche Integrationsleistungen erbringen, fordern positive Diskriminierung bei der Mittelvergabe und bei schulrechtlichen Regelungen.
Soziale Standortbeschreibung der „Schulen am Wind“: Seit Anfang 2018 treffen sich Schulleiterinnen und Schulleiter integrierter Gesamtschulen und Sekundarschulen mit schwierigen sozialen Standortbedingungen aus allen fünf Regierungsbezirken als Arbeitskreis der GGG NRW (Verband für integrierte Schulen). Ihre Schulen befinden sich in sozial benachteiligten Stadtteilen. Ihre Schülerinnen und Schüler kommen weit überwiegend aus sozial prekären Familien, die von staatlichen Unterstützungsleistungen leben. Sie haben mehrheitlich einen Migrationshintergrund und Probleme mit Deutsch als Bildungssprache. Der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich der Lern- und Entwicklungsprobleme beträgt bis zu 20 %. Hinzu kommen Kinder mit Fluchthintergrund und rudimentären Deutschkenntnissen. Diese Schulen sind als sog. Brennpunktschulen sozial segregiert.
Die Schulen teilen die bittere Erfahrung, dass sie sich trotz der von ihnen geleisteten Integrationsarbeit im politischen und gesellschaftlichen Abseits befinden und bei der Bewältigung ihrer Aufgaben allein gelassen werden. Deshalb haben sie sich entschlossen, gemeinsam aus dem Schatten herauszutreten. In einer Broschüre haben sie ihre soziale Lage als „Schulen am Wind“ schonungslos offengelegt und Politik und Öffentlichkeit mit einem dezidiert begründeten Forderungskatalog konfrontiert.
Ethos der „Schulen am Wind“
Zur pädagogischen Standortbeschreibung der „Schulen am Wind“ gehört ihr Verantwortungsbewusstsein für die Kinder und Jugendlichen, deren Bildungsweg nicht von bildungsambitionierten Elternhäusern vorgegeben ist. Ohne schulische Unterstützung drohen sie, orientierungs- und chancenlos zu bleiben.
In der Überzeugung, dass kein Kind zurückgelassen werden darf, dass jedes Kind das Recht auf bestmögliche Potentialentfaltung hat und herkunftsbedingte Benachteiligung durch individuelle Förderung kompensiert werden kann, fordern die „Schulen am Wind“ eine Politik der positiven Diskriminierung. Das geeignete Mittel dazu sehen sie in einer streng datenbasierten und bedarfsorientierten Ressourcensteuerung. Die politische Umsetzung des Grundsatzes, dass Ungleiches ungleich behandelt werden muss, ist für sie ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.
Ungebremste Schulsegregation als Verstärker der Ungleichheit
Die Ursachen für die dramatische soziale Schulsegregation sind nicht in der professionellen Arbeit der Schulen zu suchen. Sie sind in der sozialräumlichen Segregation nach dem sozioökonomischen Status der Stadtbevölkerung strukturell angelegt und werden durch bildungspolitische Strukturentscheidungen verschärft.
In ihrer Broschüre verweisen die Schulen darauf, dass durch den weitgehenden Wegfall der Hauptschulen im Rahmen des Schulkonsenses die integrierten Schulformen die Aufnahmestation für Schülerinnen und Schüler geworden sind, die die Gymnasien und Realschulen nicht „gebrauchen“ können.
Da die „Schulen am Wind“ standortbedingt vorwiegend sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler an sich binden, tragen Hauptschulschließungen und Abschulungen zur Verschärfung der schulischen Problemlage bei. In der Wahrnehmung bildungsaffiner Eltern werden sie als „Problemschulen“ abgestempelt, die es unbedingt zu vermeiden gilt.
11 Erfolgsbedingungen der „Schulen am Wind“
11 Forderungen haben die „Schulen am Wind“ als Erfolgsbedingungen für ihre Arbeit ausgemacht, konkretisiert und begründet.
Z.B. fordern sie „Systemzeit“ für Lehrkräfte an prekären Standorten. Sie haben einen überproportional hohen Anteil an Beratungs- und Betreuungsaufgaben in Gesprächen mit SchülerInnen, Familien, Ämtern und außerschulischen Kommunikationspartnern zu leisten. Sie haben auch einen „weit überproportional hohen Bedarf an Klassen- und pädagogischen Konferenzen“. Es wird ihnen „ein weit überproportional hohes Maß an Phantasie zur Ermöglichung von Unterricht unter Ausschöpfung des gesamten pädagogisch sinnvollen und rechtlich zulässigem Instrumentariums“ abverlangt. Diesen zusätzlichen Aufgaben muss mit „einer adäquaten Reduzierung der individuellen Pflichtstundenzahl“ Rechnung getragen werden.
Sie fordern u.a. „Anreize für hoch leistungsfähige Lehrkräfte an prekären Standorten“. In der derzeitigen Wettbewerbssituation, in der Schulen um Lehrkräfte als Mangelware kämpfen müssen, ziehen „Schulen am Wind“ den Kürzeren. Dabei brauchen sie die besten Lehrkräfte für ihre SchülerInnen. Das soll bspw. durch eine vorrangige LehrerInnenversorgung für die „Schulen am Wind“ gewährleistet werden. Mit Gehaltszuschlag und Beförderungsmöglichkeiten sollen LehrerInnen für ihre besondere Arbeit auch die notwendige Anerkennung bekommen. Neue Lehrkräfte sollen eine zeitlich befristete Unterstützung durch MentorInnen in der Größenordnung von zwei Lehrerwochenstunden je neuer Lehrkraft und einer Lehrerwochenstunde für die MentorInnen erhalten, „um durch Hospitation und Beratung in die spezifischen Bedarfe dieser Standorte eingeführt zu werden“.
Mit weitreichenden pädagogischen Freiheiten wollen die „Schulen am Wind“ den erschwerten Lebensweltbedingungen ihrer Schülerschaft besser gerecht werden. Deshalb fordern sie auch die „Aufhebung des Zwangs der Benotung durch Ziffernnoten bis zum Ende der Schullaufbahn der Sekundarstufe I. Die Talente sind vorhanden. Die Selbstkonzepte der SchülerInnen sind schlecht. Hier muss mit Solidarität, Klarheit, Bindung und Freiheit gearbeitet werden.“
Gegen Privilegierung des Gymnasiums
Zu den Erfolgsbedingungen der „Schulen am Wind“ gehören Forderungen, die die derzeitige Privilegierung der Gymnasien in NRW in Frage stellen. Gefordert wird die „Übernahme der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Inklusion durch sämtliche Sek-I-Schulformen und -Standorte“. Dies ist eine deutliche Absage an die Entscheidung des Schulministeriums, die Gymnasien nur für zielgleich lernende SchülerInnen in die Pflicht zu nehmen und die integrierten Schulformen als allein zuständig für SchülerInnen mit Lern- und Entwicklungsproblemen zu erklären.
Auch für die die Verteilung der Kinder mit Fluchthintergrund, aus der EU-Binnenmigration und von Kindern mit nicht deutscher Familiensprache soll gelten, dass alle Schulformen der Sekundarstufe nach einem festen Schlüssel beteiligt werden.
Die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit bei der Personal- und Ressourcenversorgung durch eine gezielte Ungleichbehandlung ungleicher Schulen zielt auf die Aufhebung der bestehenden Privilegierung des Gymnasiums durch eine falsche Gleichbehandlung.
Ein starker Gegenentwurf zum Luxusprojekt „Talentschulen“
Der Arbeitskreis der „Schulen am Wind“ legt Wert auf die Betonung, dass seine politische Offensive keine Reaktion auf das Modellprojekt „Talentschulen“ ist, das im Sommer 2018 vom Schulministerium ausgerufen wurde. Faktisch aber versteht sie sich als ein kritischer Gegenentwurf.
Es gibt einen unabweisbaren Notstand an vielen Sek-I-Standorten, den das Modellprojekt ignoriert. Verteilungsgerechtigkeit herzustellen ist nicht das Ziel. Die „Schulen am Wind“ fühlen sich brüskiert und provoziert durch die Unterstellung, man müsse erst noch im Rahmen eines Modellversuchs den Beweis erbringen, dass es sich lohne, Schulen unter erschwerten Bedingungen besonders zu fördern. Die „Schulen am Wind“ wissen aus Erfahrung, was sie brauchen, um erfolgreich pädagogisch arbeiten zu können.
Schulsegregation führt auf der Seite des Gymnasiums zu einer Konzentration privilegierter Schülerinnen und Schüler, wie der aktuelle Datenreport 2018 herausstellt, der vom Bundesamt für Statistik und vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung herausgegeben wird. Nur 8,7 % der Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums kamen 2016 aus Familien, in denen die Eltern lediglich einen Hauptschulabschluss bzw. keinen Schulabschluss hatten, während 64,2 % Eltern mit Fachhochschul- oder Hochschulreife hatten. Diese Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit des Umsteuerns in der Bildungsfinanzierung.
Die Tatsache, dass auch unter der rot-grünen Vorgängerregierung das Verteilungsproblem trotz politischer Ankündigung nicht angegangen wurde, lässt jedoch erahnen, dass das Thema der Verteilungsgerechtigkeit im Bildungsbereich ein machtpolitisches Thema ist, dem die Bildungspolitik lieber ausweicht.
Die Broschüre will aufklären und dazu beitragen, dass sich weitere Schulen anschließen, in die Offensive gehen und politischen Druck entfalten. Die Initiative der „Schulen am Wind“ wird unterstützt von den nordrhein-westfälischen Organisationen der GGG, der GEW, der Landeselternschaft integrierter Schulen und der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen.