Die Nationale Plattform, die 2017 den Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung verabschiedet hat, will initiativ werden: Neue Impulse sollen BNE in der formalen Bildung größere Wirksamkeit geben und ihre Umsetzung beschleunigen.
Die Nationale Plattform (NP) setzt sich zusammen aus Vertreter:innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Sie hat den Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung (NAP BNE) unter dem Vorsitz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) am 20. Juni 2017 verbschiedet. Die Empfehlungen des NAP orientieren sich an dem Weltaktionsprogramm Bildung für Nachhaltige Entwicklung der UNESCO, die damit die Agenda 2030 der Vereinten Nationen bei der Umsetzung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals: SDGs) unterstützen will.
Impulspapier für BNE 2030
Nach dem Auslaufen des Weltaktionsprogramms (2015-2019) hat die UNESCO mit BNE 2030 ein Nachfolgeprogramm (2020-2030) aufgelegt. Es ist auf der Weltkonferenz der UNESCO in Berlin 2021 unter Mitwirkung der Deutschen UNESCO-Kommission und des BMBF vorgestellt und auch von Deutschland mit der Berliner Erklärung beschlossen worden.
In dem Impulspapier „Unser weiterer Weg zur Umsetzung von BNE 2030“ hat die Nationale Plattform als oberstes Lenkungsgremium für die deutsche Umsetzung des UNESCO-Programms im September 2023 ihre Überlegungen öffentlich gemacht, wie der NAP im Sinne von BNE 2030 wirkungsvoll umgesetzt und weitergeführt werden soll.
Umsetzungsdefizite
Das Programm BNE 2030 der UNESCO verfolgt mit fünf Handlungsfeldern einen radikal transformativen Bildungsansatz. Es fordert schulische und außerschulische Lerngelegenheiten für die aktive Beteiligung der Lernenden an der Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele.
Über unterrichtlichen Wissenserwerb zu Nachhaltigkeitsthemen hinaus sollen sie Erfahrungen als aktiv politisch Gestaltende in der Verantwortung für sich, für Mitmenschen und für den Planeten machen können. Alle Lernenden sollen Kenntnisse, Selbstwirksamkeit und Gestaltungskompetenzen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung bis 2030 erwerben.
Die Politik soll ermöglichen, dass Lernende an Projekten und Entscheidungen beteiligt werden, die für nachhaltige Entwicklung relevant sind. Schule soll als „Reallabor“ für Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation zum experimentellen Lernen einladen und sich unter dem Leitbild von BNE aus starren inhaltlichen, zeitlichen, räumlichen, organisatorischen und strukturellen Unterrichtsvorgaben befreien. Lehrkräfte sollen Kinder und Jugendliche zum Handeln für nachhaltige Entwicklung ermutigen und befähigen und die dafür notwendigen Qualifikationen in Aus- und Fortbildung erwerben.
Dieser Auftrag ist in den Schulen noch nicht angekommen. Das zeigt das Nationale Monitoring BNE am Institut Futur der Freien Universität Berlin in einem 2022 veröffentlichten Kurzbericht auf Basis einer Befragung von 3.000 jungen Menschen und Lehrkräften. Danach sehen sich weniger als ein Viertel der jungen Menschen durch formale Bildung in die Lage versetzt, „effektiv zur Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen beitragen zu können“. Die Befragung ergibt auch, dass nicht einmal die unterrichtliche Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen in allen Fächern hinreichend verankert ist.
Gute Absichten
Die Nationale Plattform (NP) will offensichtlich mit dem Impulspapier auf die große Lücke reagieren, die zwischen Programmatik und Umsetzung von BNE 2030 derzeit klafft. Sie bekennt sich in ihrem Papier zu dem UNESCO-Programm BNE 2030 mit seinem ganzheitlichen und transformativen Bildungsansatz. Sie bekennt sich zu den von der UNESCO vorgegebenen Handlungsfeldern und zu der Berliner Erklärung.
Die NP will erreichen, dass BNE 2030 in der Breite der formalen Bildung und damit auch in allen Schulen beschleunigt umgesetzt wird, bspw. durch „Fortsetzung und Beschleunigung der strukturellen Verankerung von BNE anhand von politischen Leitpapieren von Bund, Ländern und Kommunen, relevanten Gesetzen und leitenden Erlassen, Bildungs- und Lehrplänen, Studien- und Ausbildungsordnungen und den damit verbundenen Prüfungsanforderungen sowie Hochschul-Zielvereinbarungen“. Sie will erfahrungs- und lebensweltorientiertes Lernen stärken und demokratische Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche ausbauen. Mit der Umsetzung des Whole Institution Approach sollen Schulen zu „zukunftsorientierten Gestaltungsräumen für gesellschaftliche Transformation“ werden.
Die NP will ihre eigenen Kräfte bündeln, ihre Handlungsstrukturen verbessern, ihren Forderungen mehr Kohärenz verleihen, sich mit neuen Zielgruppen vernetzen und eine Kampagne für BNE vorbereiten.
Unzureichende Impulse
Gut so, möchte man denken. Aber der wortreichen Zustimmung zu BNE fehlt die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, warum so wenige Schulen auf dem Entwicklungspfad zu einem „Reallabor“ sind. Aud diese Weise klammert die Nationale Plattform in ihren Überlegungen aus, dass Schule und Schulsystem selbst radikal transformiert werden müssen, damit BNE als transformative Bildung wirksam werden kann.
Es fehlt letztlich der Mut, die überkommene Schulpraxis in den bestehenden Strukturen mit ihren negativen Auswirkungen kritisch in den Blick zu nehmen und davon ausgehend konsequente Veränderungsprozesse zu reflektieren und zu fordern.
Strukturelle Lähmung
Die Frage bleibt: Warum kommen die Lernenden im schulischen Kontext nicht ins Handeln? Wo sind die Schulen, die das Lernen für nachhaltige Entwicklung als „Reallabor“ organisieren und ihre Lernenden befähigen und ermutigen, „Change Agents“ zu werden?
Es greift zu kurz, die Erklärungen für die geringe Wirkung von BNE in Defiziten der Lehreraus- und -fortbildung und in den Curricula zu suchen. Die Organisation Teachers for Future legt den Finger in die Wunde, wenn sie feststellt, dass sich das Wissen rund um die Klimakrise zwar vergrößert, aber durch die Art, wie in Schulen gelernt wird, kaum Auswirkungen auf das Handeln der Lernenden hat.
Für die Art, wie in Schulen gelernt wird, sind die selektiven Schulstrukturen besonders wirkungsmächtig und stellen den heimlichen Lehrplan. Das bestehende Schulsystem ist strukturell an der Bildung von Leistungshomogenität in Lerngruppen und Schulformen ausgerichtet. Es verlangt zu ihrer Herstellung Maßnahmen der Leistungsselektion, die nachweislich auch immer sozial selektiv wirken.
In diesem Kontext wird schulisches Lernen eher selten als individueller und kollaborativer Aneignungsprozess von neuen wichtigen Fähigkeiten, Kenntnissen und selbstwirksamen Erfahrungen erlebt. Eingepauktes Wissen wird abgeprüft, benotet und schnell wieder vergessen. Auch wichtige Inhalte werden allzu oft zu Prüfungsgegenständen deklassiert. Lernende werden zu Konkurrent:innen im Wettbewerb um Noten.
Anpassung an Standards
Unter dem Einfluss der empirischen Forschung ist das selektive Schulsystem auf standardorientierte Lern- und Unterrichtsentwicklung zur Sicherung von Qualität und Herstellung formaler Vergleichbarkeit ausgerichtet worden. Nachweislich ist es aber nicht gelungen, das System gerechter und leistungsfähiger zu machen, wie Studien des IQB nachdrücklich bestätigen. Stattdessen verschlechtern sich die Bedingungen für Lernende und Lehrende. Mit der Standardisierung werden beide Gruppen in den Schraubstock eines an ökonomischer Effizienz ausgerichteten selektiven und segregierten Systems eingespannt und angepasst (Thomas Höhne 2006, 2020).
Mit dem Paradigma des Standardisierens und Vermessens verliert die Schule die ganzheitliche Sicht auf die Lernenden, wie Prof. Hans Brügelmann in seiner Buchveröffentlichung „Vermessene Schule- Standardisierte Schüler“ (2015) kritisiert. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Gutachten zur Erfassung der Arbeitssituation und-belastung an Grundschulen des Instituts Interdisziplinäre Forschung (ISF) im Auftrag des Grundschulverbandes (https://bildungsklick.de/schule/detail/die-grundschule-von-der-auslesef…).
Da bleibt kaum Zeit, die Disruption, die die Pandemie in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verursacht hat, emotional und sozial aufzuarbeiten. Die Sendung „Panorama“ hat am 07.11.2023 gezeigt, dass und wodurch Schule krank macht. Schülerinnen und Schüler von Gymnasien berichteten in der Sendung persönlich und nicht anonymisiert, was die Schule mit ihnen macht: Von Stress, Schlaflosigkeit, Angststörungen und Depressionen war die Rede, ausgelöst durch Leistungs- und Anpassungsdruck, durch Lernen ohne Sinn, ohne Selbsttätigkeit, ohne Beteiligung, ohne Berücksichtigung der sozialen und emotionalen Belastung nach den Erfahrungen der Pandemie.
Dysfunktionale Wirkungen
Das bestehende Schulsystem mit seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen verhält sich dysfunktional zu den Nachhaltigkeitszielen. Es versagt darin, allen Lernenden das Recht auf Grundbildung zu sichern. 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Bundesweit haben 6,2 Prozent der Jugendlichen 2023 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Ein Großteil von ihnen kommt aus den Förderschulen, wo ca. 70 Prozent keinen Abschluss erwerben. Damit wird das Schulsystem selbst zum Produzenten von Armut, die die Agenda 2030 ja gerade überwinden will.
Das Nachhaltigkeitsziel SDG 10 der Agenda 2030 verlangt, dass soziale Ungleichheiten abgebaut werden. Das Markenzeichen des deutschen Schulsystems ist jedoch die immer wieder in nationalen und internationalen Studien festgestellte enge Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Das System trägt zur Verfestigung von Bildungsungleichheit und zur grundgesetzwidrigen Vererbung von Bildungsarmut und Bildungsprivilegien bei.
Die Ergebnisse des Übergangs zum Gymnasium, der je nach Bundesland durch verbindliche oder unverbindliche Empfehlungen der Grundschule geregelt ist, belegen dies eindeutig. Kinder, deren Eltern keinen Schulabschluss haben, sind chancenlos und müssen faktisch „draußen bleiben“. Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss sind im Vergleich zu Kindern aus akademisch geprägten Milieus seltener am Gymnasium vertreten. Und das gilt auch bei gleichen Leistungen.
Auch die Bildungsdisparitäten zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen bei den Schulabschlüssen halten an. Ausländische Jugendliche verlassen nach wie vor mehr als doppelt so häufig das Schulsystem ohne Hauptschulabschluss und erreichen dreimal seltener die Hochschulreife.
Das selektive, segregierte Schulsystem ist in seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen dysfunktional zu den Nachhaltigkeitszielen und damit auch zu BNE.
Inklusive Bildung - Basis für BNE
Unter den 17 Nachhaltigkeitszielen der von den Vereinten Nationen beschlossenen Nachhaltigkeitsagenda kommt inklusiver, auf Chancengleichheit beruhender, hochwertiger Bildung als SDG 4 eine Schlüsselrolle zu. Die UNESCO bezeichnet inklusive Bildung in der 2015 beschlossenen Incheon-Erklärung als „Grundpfeiler einer transformativen Bildung, weswegen wir uns verpflichten, gegen alle Formen von Exklusion und Marginalisierung, Disparitäten und Ungleichheiten bei Zugang, Teilhabe und Lernergebnissen anzugehen“.
Sie ist „für das Erreichen qualitativ hochwertiger Bildung für alle Lernenden, einschließlich Lernende mit Behinderungen, sowie die Entwicklung inklusiver, friedlicher und gerechter Gesellschaften von zentraler Bedeutung“, stellt der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr.4 zum Recht auf inklusive Bildung 2015 fest.
Der inklusiven Bildung werden relevante Teilziele zugeordnet. Sie soll bspw. sicherstellen, dass durch BNE alle Menschen bis 2030 zu zukunftsfähigem Handeln befähigt werden. Damit wird inklusive Bildung sowohl Grundlage und Ausgangpunkt für BNE als auch Voraussetzung für die Umsetzung und Realisierung aller Nachhaltigkeitsziele. BNE ist untrennbar an inklusive Bildung gebunden.
Bildungspolitische Verweigerung
Die deutsche Bildungspolitik vermittelt dieses Verständnis nicht. Die Diskurse über inklusive Bildung und BNE werden bildungspolitisch völlig unverbunden geführt. Beide Bildungskonzeptionen werden als getrennte Aufgaben vermittelt. Dies setzt sich dann auch im öffentlichen Diskurs und in der Wahrnehmung der Lehrkräfte fort.
Die Bildungspolitik hat BNE nicht nur von inklusiver Bildung entkoppelt. Sie hat inklusive Bildung als SDG 4 unkenntlich gemacht, indem sie es meistens nur verkürzt als „hochwertige Bildung“ bezeichnet. Warum? Die Begründung liegt auf der Hand. Die Bildungspolitik weigert sich beharrlich, inklusive Bildung umzusetzen. Sie hat inklusive Bildung mit der Verabschiedung der UN-BRK lediglich an das selektive, segregierte Schulsystem angepasst, statt es zu einem inklusiven, auf Chancengleichheit beruhenden und hochwertigen System zu transformieren.
Die Transformationsverpflichtung ist zwar erst mit der UN-BRK völkerrechtlich kodifiziert worden, besteht aber als Empfehlung an die Staatengemeinschaft schon in der Salamanca Resolution. „Schulen sollen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen und anderen Fähigkeiten aufnehmen“, heißt es in der 1994 auf der UNESCO Weltkonferenz verabschiedeten Resolution. Um dies zu realisieren, „bedarf es einer Pädagogik der besonderen Bedürfnisse, die davon ausgeht, dass menschliche Unterschiede normal sind, dass das Lernen daher an das Kind angepasst werden muss und sich nicht umgekehrt das Kind nach vorbestimmten Annahmen über das Tempo und die Art des Lernprozesses richten soll“.
Das bestehende Schulsystem ist in seinen Strukturen, Funktionen und Prozessen nicht inklusiv. Es ist inklusionswidrig. Um BNE ihre volle Wirksamkeit zu geben, müssen die bestehenden Strukturen den Erfordernissen von inklusiver Bildung angepasst werden und BNE muss in inklusiven Strukturen verankert werden.
Impulse weiterdenken!
Auch die NP stellt den Zusammenhang zwischen inklusiver Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht her. In dem Impulspapier werden zur Stärkung der interdisziplinären Vernetzung von BNE verschiedene Handlungsfelder aufgeführt, u.a. „politische Bildung, Demokratielernen und Partizipation, Citizen Science, Sport, MINT, (planetare) Gesundheit, social entrepreneurship, ökonomische Bildung, Digitalisierung/Bildung in der digitalen Welt“. Inklusive Bildung taucht in der bunten Aufzählung nicht einmal auf.
Es ist an der Zeit, dass Befürworter:innen von Bildung für nachhaltige Entwicklung sich mit Unterstützer:innen von inklusiver Bildung auf der wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Ebene treffen, um gemeinsam Impulse für eine inklusive Bildung für nachhaltige Entwicklung (IBNE) zu reflektieren und Schritte für den notwendigen Transformationsprozess der Schulen und des Schulsystems einzufordern. Es muss verhindert werden, dass BNE auch nur an die Strukturen der Ungleichheit angepasst wird wie die inklusive Bildung.
Exzellente Vorarbeit dafür hat Margret Rasfeld in ihrem Buch „Frei Day. Die Welt verändern lernen! Für eine Schule im Aufbruch“ (2021) geleistet. Mit scharfem Blick für die Defizite des bestehenden Systems und seine Veränderungsnotwendigkeit baut sie mit ihrer Initiative Schule im Aufbruch und dem Lernformat „Frei-Day“ eine Brücke für Schulen zu zukunftsfähigem Lernen.
Brigitte Schumann (1/2024)