Ein Verein hat eine Unterschriftenaktion mit der Forderung an den Deutschen Bundestag gestartet, eine Enquetekommission „Gesellschaftliche Inklusion“ einzurichten. Er wird sich mit dem Anliegen auch an den Genfer UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wenden.
Mit dieser Initiative von Politik gegen Aussonderung – für Integration und Inklusion e.V. (PogA) wird die Kritik an der unzulänglichen bzw. verfehlten politischen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in allen gesellschaftlichen Bereichen gebündelt. Wenn am 29. und 30. August 2023 der zuständige UN-Fachausschuss (CRPD) für die Überprüfung der konventionskonformen Umsetzung der UN-BRK mit Vertreter:innen der Bundesregierung und der Zivilgesellschaft den zweiten und dritten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland in Genf behandelt, dann wird ihm auch die Forderung an den Deutschen Bundestag vorliegen. Auf der Homepage des Vereins können ab sofort Unterschriften dazu abgegeben werden.
Hintergrund
Die Forderung nach einer Enquete-Kommission wird damit begründet, dass der Vertragsstaat Deutschland seiner Verantwortung für die Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt, die er mit der Ratifizierung der Konvention vor 14 Jahren eingegangen ist. „Es lässt sich vielfältig systematisch und an Einzelfällen belegen, wie die völkerrechtliche Handlungspflicht […] durch v.a. fehlende strukturelle, personelle, aus- und fortbildungsmäßige und/oder materielle und andere Voraussetzungen in den verschiedenen, in der UN-BRK benannten Gesellschaftsbereichen behindert bis verunmöglicht wird und Ausgrenzung nach wie vor stattfindet“, erklärt der Verein.
Die Enquete-Kommission soll den Ist-Stand zur Umsetzung inklusionsverpflichtender Rechtsnormen erheben, strukturelle Barrieren und Inklusionshemmnisse identifizieren und über sektorenbezogene Empfehlungen hinaus handlungsorientierte Empfehlungen für ein gesamtgesellschaftliches Inklusionskonzept mit indikatorenbasierten Aktionsplänen abgeben.
Die Unterschriftenaktion soll im Vorfeld der Forderung politischen Nachdruck verleihen, da Gespräche mit Vertreter:innen der Bundestagsfraktionen bislang ergebnislos geblieben sind.
Kritiker:innen aus dem Bereich der Behindertenwerkstätten und das Bündnis „Eine für alle – die inklusive Schule für die Demokratie“ fanden lediglich bei der Fraktion Die Grünen ein offenes Ohr. Das reicht aber nicht, da insgesamt für die Einsetzung eines solchen parlamentarischen Instrumentes ein Viertel der Bundestagsabgeordneten dafür stimmen müssen. Selbst die Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte, die als unabhängige Stelle den offiziellen Auftrag hat, die Politik bei Fragen der Umsetzung zu beraten, konnte sich mit dieser Forderung nicht durchsetzen.
Erstunterzeichner:innnen
Qualifizierten Rückenwind für die Aktion hat sich der Verein auf der diesjährigen Inklusionsforschertagung in Zürich geholt. Aus den Reihen der Inklusionsforscher:innen konnten zahlreiche Erstunterzeichner:innen für die Unterschriftenaktion gewonnen werden. Sie halten es für dringend geboten, „durch das Einsetzen einer interdisziplinär zusammengesetzten Enquete-Kommission, unter Beteiligung aller relevanten Akteure und von Sachverständigen aus der Praxis, den Selbstvertretungsorganisationen, Verbänden und der Wissenschaft, eine Bestandsaufnahme in allen in der UN-BRK angesprochenen gesellschaftlichen Bereichen vorzunehmen“.
Ausreden
In der Vorbemerkung zum zweiten und dritten Staatenbericht verweist die Bundesregierung darauf, dass nach der föderalen Verfassung der Bundesrepublik Bund und Länder gleichermaßen in der Verantwortung für die Verwirklichung der Konventionsziele sind und es in der Regel keine Durchgriffsrechte des Bundes gibt.
Als Vorteil der föderalen Struktur wird herausgestellt, dass auf den parlamentarischen Ebenen von Bund und Ländern die besten Lösungen gesucht und legitimiert werden müssen, um „das deutsche Recht im Lichte der Konvention weiterzuentwickeln“. Als Beleg dafür werden die 17 Aktionspläne von Bund und Ländern genannt. Sie seien ein zentrales Instrument, „um Ziele zu beschreiben, Verantwortlichkeiten festzulegen, Meilensteine zu definieren und Ergebnisse zu messen“.
Was bei der Vielzahl unterschiedlicher Planungen herauskommt, hat das Deutsche Institut für Menschenrechte in seinem siebten Bericht an den Bundestag zur „Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland“ für den Bereich der Bildung aufgezeigt. Es gibt auch 14 Jahre nach der Unterzeichnung der Konvention keine nachhaltige Gesamtstrategie für ein inklusives Schulsystem, sondern in etlichen Ländern eine Rückentwicklung.
Es ist mehr als zweifelhaft, dass die Bundesregierung mit ihrer Argumentation den Genfer Ausschuss überzeugen kann. Schließlich hat der Fachausschuss bei seinen Empfehlungen zum ersten Staatenbericht von Deutschland 2015 kritisch angemahnt, dass die Bundesregierung die Verantwortung dafür trägt, dass auf allen Ebenen – Bund, Länder, Kommunen – die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Sinne der Menschenrechtskonvention umgesetzt werden.
Lösungen
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat in seinem Menschenrechtsbericht Lösungen aufgezeigt, „die auf die Schaffung von Erweiterung der Bundesgesetzgebungskompetenz angelegt sind, ohne die Bildungshoheit der Länder einzuschränken“.
Bspw. wäre analog zu den Kooperationsmöglichkeiten durch Bund und Länder im Hochschulbereich, die durch eine Neuregelung des Grundgesetzes 2015 geschaffen wurden, eine Ausweitung auf den Bereich der inklusiven Bildung mit der Schaffung eines neuen Kompetenztitels denkbar. Außerdem schlägt der Bericht einen Bildungsstaatsvertrag zwischen Bund und Ländern zur Herstellung rechtsverbindlicher Rahmenbedingungen vor, um „gemeinsame Ziele zu definieren, zu finanzieren und umzusetzen sowie die Umsetzung zu überprüfen, also eine gemeinsame Strategie zu entwickeln“.
Um das Hemmnis für eine effektive inklusionskonforme Gesamtstrategie auszuräumen oder – anders ausgedrückt – „die Kuh vom Eis zu holen“, empfiehlt sich auch deswegen die Einrichtung einer Enquetekommission.
Brigitte Schumann (Mai 2023)