Der Verband Sonderpädagogik (vds) hat die Kultusministerkonferenz (KMK) aufgefordert, Schüler:innen in den Bildungsgängen Lernen und Geistige Entwicklung eigene kompetenzorientierte Schulabschlüsse auszustellen und ihre negative Etikettierung als Schüler:innen „ohne Schulabschluss“ zu beenden. Cui bono?
Mit dieser bildungspolitischen Forderung hat sich der Verband kurz vor der Veröffentlichung der viel beachteten Studie von Klaus Klemm über die Schulabschlüsse in Deutschland zu Wort gemeldet. Ist dies Zufall?
Klemm hat festgestellt, dass 50 Prozent der Schüler:innen ohne Hauptschulabschluss Schulabgänger:innen von Förderschulen sind. Seine Auswertung belegt aber nicht nur den bekannten institutionellen Zusammenhang zwischen Förderschule und geringer Bildung. Sie weist auch aus, dass Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen deutlich seltener als Schüler:innen in Förderschulen dem Risiko ausgesetzt sind, ihre Schule ohne Schulabschluss zu beenden.
Bessere Ausbildungschancen durch Anerkennung?
Scharf weist der vds die Etikettierung „ohne allgemeinen Schulabschluss“ von Schüler:innen in den zieldifferenten Bildungsgängen Lernen und Geistige Entwicklung zurück. Es bedeute „eine Missachtung der über die Schulzeit erbrachten schulischen Leistungen und Anstrengungen dieser Schüler:innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung“. Aus Sicht des Verbandes haben sie Anspruch auf einen anerkannten zieldifferenten Abschluss, der ihre erworbenen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen angemessen dokumentiert und ihre Ausbildungschancen verbessert. „Damit werden Voraussetzungen für die Anerkennung durch nachfolgende Institutionen und eine Relevanz für den Übergang in die berufliche Qualifizierung geschaffen.“
Die vom vds zusätzlich geforderte „Erweiterung der bundesweiten Schulabschluss-Statistik um die Kategorie „Zieldifferente Schulabschlüsse“ hätte zweifellos für die Sonderpädagogik den eindeutigen Vorteil, dass Förderschüler:innen aus der Negativbilanz der Statistik schlicht „herausgerechnet“ werden.
Förderschule als Ausbildungshandicap
Der Blick in eine aktuelle empirische Untersuchung widerlegt die Erwartung des vds. In einer deutschlandweiten Stichprobe hat Jonna Blanck (2020) die Chancen von Förderschüler:innen auf eine berufliche Ausbildung mit Hauptschüler: innen verglichen, die es als sozial Benachteiligte ebenfalls auf dem regulären Ausbildungsmarkt schwer haben.
Die Studie belegt, dass Förderschüler:innen über geringes Selbstvertrauen und geringe Selbsttätigkeit verfügen und daher in ihrem Bewerbungsverhalten eingeschränkt sind. Die Studie kann auch nachweisen, dass die geringen Fähigkeiten, selbständige Entscheidungen zu treffen und soziale Beziehungen auszugestalten, auf ihre schulische Identitätsbeschädigung durch die Zuschreibung als „lernbehindert“ und „hilfebedürftig“ zurückzuführen sind. Ihre soziale Segregation in der Förderschule und ihr Mangel an familiärer sozialer Ressourcenausstattung führen dazu, dass sie in ihrem Selbstbild deutlich beschädigter als Hauptschüler:innen sind und schlechtere Ausbildungschancen haben.
Durch einen Vergleich mit Hauptschüler:innen, die bezogen auf familiären Hintergrund, kognitive Grundfähigkeiten und Schulabschluss Förderschüler:innen vergleichbar sind, kann die Untersuchung zeigen, dass der Förderschulbesuch selbst die Chancen auf einen Ausbildungsplatz negativ beeinflusst und sich als „globaler Negativeffekt“ erweist. Mit einem komplexen statistischen Verfahren hat Blanck ermittelt, dass Förderschüler:innen eine um 21,4 Prozentpunkte gesteigerte Chance auf einen Ausbildungsplatz gehabt hätten, wenn sie statt der Förderschule die Hauptschule besucht hätten.
Die Studie stellt heraus, dass die Förderschule die soziale Benachteiligung ihrer Schülerschaft nicht ausgleicht, sondern sie zusätzlich in ihren Ausbildungschancen extrem benachteiligt. Damit wird sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht und verliert ihre Legitimation und Berechtigung. Folgerichtig plädiert Blanck nicht nur für die Abschaffung der Förderschule Lernen, sondern auch dafür, die förmliche Feststellung der „Lernbehinderung“ abzuschaffen. Unterstützende Ressourcen für die inklusive Förderung sollten von der Notwendigkeit der Etikettierung entkoppelt werden. Damit „wird zumindest die formale Stigmatisierung der Gruppe vermieden und die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass sich diese nach Verlassen der Schule fortsetzt“.
Förderschule als Produzentin von Bildungsarmut
Geradezu skandalös muteten bereits die wissenschaftlichen Befunde zum Bildungsertrag der Förderschule von Hans Wocken (2007) an. Der Inklusionsforscher wollte wissen, wie es um die Lerneffizienz der Förderschule steht und welche Faktoren die Schulleistung von Förderschüler:innen am stärksten beeinflussen. Er fand heraus, dass die Zahl der Schulbesuchsjahre im Förderschulsystem den größten Effekt hat, allerdings im negativen Sinn. „Je länger ein Schüler in der Förderschule zugebracht hat, desto schlechter sind sowohl seine Rechtschreibleistungen als auch seine Intelligenzwerte“, lautet das Ergebnis.
Michael Wrase, Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht, hat in seinem Gutachten „Das Recht auf Grundbildung und die Pflicht des Staates zur Sicherung des bildungsrechtlichen Existenzminimums“ (2020) im Auftrag der GEW empirische Befunde zur Leistungsbilanz der Förderschule zusammengefasst und die Förderschule als besondere Produzentin von funktionalem Analphabetismus und Bildungsarmut bezeichnet. Er resümiert, dass mehr als 60 Prozent der jungen Menschen, die in Deutschland dauerhaft ohne berufsqualifizierenden Abschluss bleiben, eine Förderschule besucht haben, während es bei den Absolvent:innen von Hauptschulen 18 Prozent sind.
„Vor allem den ehemaligen Förderschüler:innen gelingt es auch im Übergangssystem nicht“, so Wrase, „Abschlüsse und Kompetenzen nachzuholen; vielmehr wirken auf sie erhebliche Exklusions- und Stigmatisierungseffekte. Die Institutionalisierung eines kompetenzarmen schulischen Umfelds ist besonders deshalb fatal, weil Bildungsdefizite von Erwachsenen – insbesondere in Deutschland – häufig an ihre Kinder weitergegeben, also „sozial vererbt“ werden.“
Das Eigeninteresse der Sonderpädagogik und die Pflicht des Staates
Es ist durchaus kein Zufall, wenn der vds zu diesem Zeitpunkt den Vorwurf erhebt, Förderschüler:innen im zieldifferenten Bildungsgang Lernen und Geistige Entwicklung würden als „Schüler:innen ohne Abschluss“ negativ etikettiert, und sich als Sachwalter der benachteiligten Kinder und Jugendlichen in Szene setzt. Die Sonderpädagogik, die jahrzehntelang unangefochten ihre Unverzichtbarkeit für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen gesellschaftlich behaupten konnte, sieht sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention massiver Kritik und schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt.
Die Bildungsforschung beobachtet, dass die sonderpädagogische Diagnostik von dem Eigeninteresse geprägt ist, mit der Etikettierung einer immer größeren Zahl von Schüler:innen als „sonderpädagogisch förderbedürftig“ die Förderschulen bei gleichzeitig ansteigenden Inklusionsanteilen zu erhalten. Unterlegt mit sonderpädagogischen Fehldiagnosen wird der Vorwurf auch öffentlich laut, dass Kinder zur Sicherung eines „dual-inklusiven“ Systems aus sonderpädagogischer Förderung in Regelschulen und in Förderschulen willkürlich zu „Behinderten“ erklärt werden.
Auch Blanck konnte in ihrer Studie die großen Überschneidungen bei den kognitiven Fähigkeiten der Schüler:innen an Förder- und Hauptschulen sichtbar machen und damit unterstreichen, dass die sonderpädagogische Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs das Ergebnis einer relativ willkürlichen Zuschreibung ist.
Nicht zuletzt dürfte der Vorstoß der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern mit ihrem Positionspapier erklären, warum der vds mit seiner Forderung in die Offensive geht. Gefordert wird in dem Papier u.a. ein konsequenter Abbau des Förderschulsystems, ein Verbot von Förderschulerrichtungen und eine unabhängige Förderdiagnostik.
Wie Rechtswissenschaftler Wrase in seinem Gutachten herausstellt, ist der Staat verantwortlich für die Gewährleistung von Grundbildung für alle Menschen als Mindestanforderung an das Bildungssystem. Diese Gewährleistung wird durch das Förderschulsystem gründlich und grundlegend in Frage gestellt. Bund und Länder sind daher verpflichtet, zur Sicherung des bildungsrechtlichen Existenzminimums eine gemeinsame Strategie für ein hochwertiges inklusives Bildungssystem zu entwickeln und die Unterschutzstellung des Förderschulsystems aufzugeben.
Brigitte Schumann (03/2023)