Das Deutsche Institut für Menschenrechte bescheinigt der Kultusministerkonferenz in seinem aktuellen Bericht Versagen bei der Umsetzung inklusiver Bildung. Es macht konkrete Vorschläge, wie die Zuständigkeit des Bundes gestärkt werden kann.

Die Auseinandersetzung mit der verfehlten bildungspolitischen Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung nimmt einen herausragenden Platz in dem Bericht über die „Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland“ (Juli 2021 - Juni 2022) ein, den das Institut (DIMR) aktuell dem Bundestag vorgelegt hat. Es stellt kritisch heraus, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) fast 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) noch immer über keine „kontinuierliche und nachhaltige Gesamtstrategie“ zur Realisierung von inklusiver Bildung nach Artikel 24 UN-BRK verfügt. Zudem zeigt das Institut die daraus resultierenden Fehlentwicklungen auf und stellt die Fähigkeit und politische Bereitschaft der KMK in Frage, Inklusion menschenrechtskonform umzusetzen.  

Fortgesetzte Bildungsbenachteiligung und Diskriminierung

Das DIMR prangert an, dass die Förderschule – entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse und menschenrechtlicher Verpflichtungen - in den meisten Bundesländern weiterhin fest verankerter Bestandteil des Schulwesens ist.

Es weist die verschiedenen „Begründungsversuche zur Legitimation der Sonderbeschulung“ als wissenschaftlich widerlegt und „nicht haltbar“ zurück: „Eine Förderschule ist nur der Beginn von lebenslangen Exklusionsketten, in denen Kinder mit Behinderungen auch als Erwachsene oft verhaftet bleiben“, lautet sein geradezu vernichtendes Urteil über die Förderschule als Bildungsinstitution.  

Unmissverständlich stellt der Bericht klar, dass die Verteidigung der segregierenden Unterrichtung ebenso wie das sogenannte Elternwahlrecht dazu dienen, die diskriminierungsfreie Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung zu unterlaufen, das außerhalb der UN-BRK auch in anderen Menschenrechtsverträgen kodifiziert ist. Die mit dem „Elternwahlrecht“ schulgesetzlich abgesicherte Förderschulstruktur widerspricht den Vorgaben der UN-BRK und dem Recht von Kindern auf inklusive Bildung.

Unakzeptable Entwicklung

Zu den beunruhigenden Befunden der Datenanalyse gehört, dass bundesweit noch immer mehr als die Hälfte der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen separiert werden. Nur in wenigen Ländern geht der Aufbau eines inklusiven Schulsystems mit einem Rückbau des Förderschulsystems einher. Die Exklusionsquote stagniert im Bundesdurchschnitt seit Jahren auf einem nahezu gleichbleibend hohen Niveau, wobei der Anteil der Schüler:innen in Förderschulen zwischen den Bundesländern stark differiert. Der Bericht spricht deshalb von einem „nicht hinnehmbaren Stillstand bei der Etablierung eines inklusiven Schulsystems“. Daneben vermerkt er auch deutliche Rückschritte in einigen Bundesländern, die dringend beseitigt werden müssten.  

Der Bericht kann keine bildungspolitische Trendwende erkennen, geht doch die KMK in ihren Vorausberechnungen selbst davon aus, dass die Exklusionsquote bis 2030/31 stagnieren wird und sich die einzelnen Länder weiter auseinander entwickeln werden.   

Klatsche für die KMK

In mehrfacher Hinsicht liest sich der Bericht wie eine Ohrfeige für die KMK. Schließlich verteidigt sie das Förderschulsystem in all ihren Beschlüssen und Statements und weigert sich anzuerkennen, dass die Segregation in der Förderschule eine Diskriminierung darstellt.  

Am 15. Oktober 2020 beschloss die KMK als Demonstration ihrer bildungspolitischen Handlungsfähigkeit die „Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens und die gesamtstaatliche Verantwortung der Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen“, die im Februar 2021 von allen Ministerpräsident:innen abgesegnet wurde.

Selbstgefällig wurde die Vereinbarung als „Meilenstein in der Zusammenarbeit der Länder“ und als „starkes Symbol für den Bildungsföderalismus“ von Seiten der Kultusminister:innen bewertet und die Etablierung einer Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) zur Beratung der KMK gefeiert.

Der Menschenrechtsbericht spricht dagegen dem Bildungsföderalismus à la KMK die bildungspolitische Kompetenz für inklusive Bildung ab. Von der „Ländervereinbarung“ ist aus seiner Sicht keine menschrechtskonforme Umsetzung der völkerrechtlichen Inklusionsverpflichtung zu erwarten. Zum einen hält die KMK weiterhin an Regelungen fest, die im direkten Widerspruch zur UN-BRK stehen wie beispielsweise die Zulässigkeit von Förderschulen. Zum anderen „mangelt es an konkreten Umsetzungsmaßnahmen auf der Grundlage einer bildungspolitisch ambitionierten Gesamtstrategie mit zeitlichen Vorgaben“.

Es fehlt auch das Vertrauen, dass die SWK günstigen Einfluss auf die Entwicklung nehmen kann. Sie verspreche „mit einer Veranlagung auf zunächst sechs Jahre keine kontinuierliche Umsetzungs- und Wirksamkeitsprüfung“, heißt es im Bericht.

Handlungspflicht für den Bund

Schon 2015 machte der UN-Fachausschuss CRPD in seinen Empfehlungen zum ersten Staatenbericht Deutschlands deutlich, dass sich der Bund nicht mit Verweis auf den Föderalismus aus seiner Gesamtverantwortung für die Umsetzung der UN-BRK zurückziehen kann.

Der aktuelle Menschenrechtsbericht leitet aus der offenkundigen Diskrepanz zwischen der realen bildungspolitischen Entwicklung und der völkerrechtlichen Verpflichtung, die Deutschland mit der Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesregierung eingegangen ist, eine unabweisbare, notwendige Handlungspflicht für den Bund ab. Er müsse „stärkere Anstrengungen unternehmen, um ein inklusives Schulsystem umzusetzen und damit Bildungsbenachteiligungen abbauen“.

Eine Handlungsverpflichtung ergibt sich laut Menschenrechtsbericht auch aus dem grundgesetzlichen Auftrag, für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse Sorge zu tragen. Um „die erheblichen Divergenzen bei der Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung zu kompensieren und die Lebensverhältnisse in den einzelnen Ländern anzugleichen, sind bundeseinheitliche Grundstrukturen erforderlich“, so der Bericht.  

Erweiterung der verfassungsrechtlichen Kooperationsmöglichkeiten

Die Forderung nach Verantwortungsübernahme durch den Bund ist wiederholt vom DIMR öffentlich vorgetragen worden. Am 25.03.2019 forderte dessen Monitoring-Stelle anlässlich des 10. Jahrestags des Inkrafttretens der UN-BRK in Deutschland einen „Pakt für Inklusion“ zwischen Bund und Ländern.

In seinem aktuellen Bericht belässt es das DIMR nicht bei bloßen Appellen. Es zeigt mehrere Lösungen auf, die auf die „Erweiterung der Bundesgesetzgebungskompetenz angelegt sind, ohne die Bildungshoheit der Länder einzuschränken“.  

Beispielsweise sei analog zu den Kooperationsmöglichkeiten durch Bund und Länder im Hochschulbereich, die durch eine grundgesetzliche Neuregelung des Grundgesetzes 2015 geschaffen wurden, eine Ausweitung auf den Bereich der inklusiven Bildung mit der Schaffung eines neuen Kompetenztitels denkbar.  

Bildungsstaatsvertrag als „Pakt für Inklusion“

„Ergänzend zur Ausschöpfung und Schaffung verfassungsrechtlicher Möglichkeiten“ schlägt der Bericht einen Bildungsstaatsvertrag vor. Da die Überwindung der Benachteiligung und Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen in die Zuständigkeit von Bund und Ländern fällt, sei eine rechtsverbindliche Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zur Herstellung rechtsverbindlicher Rahmenbedingungen trotz des sogenannten Kooperationsverbots zulässig, um „gemeinsame Ziele zu definieren, zu finanzieren und umzusetzen sowie die Umsetzung zu überprüfen, also eine gemeinsame Strategie zu entwickeln“.  

Enthalten sein sollten in einem solchen interföderalen Vertrag beispielsweise „Vorgaben zur Verringerung der Anzahl der Schüler:innen in Förderschulen, für die Verlagerung von Kompetenzen aus der Förder- an die allgemeine Schule sowie zur Fachkräfteaus- und -fortbildung, Qualitätsvorgaben, entsprechendes Monitoring sowie ein länderübergreifender regelmäßiger Austausch, Verabredungen zur Zusammenarbeit, bundesweiten Leistungserhebungen und so weiter“.

Das Menschenrechtsinstitut verspricht sich davon eine beachtliche gesellschaftspolitische Wirkung: „Gleichzeitig könnte ein Staatsvertrag dazu beitragen, mehr Verantwortungsbewusstsein der Länder für ihre Rechtspflicht zur Verwirklichung des Menschenrechts auf inklusive Bildung durch Gewährleistung eines inklusiven Schulsystems zu erzeugen.“

Ausblick

Der Menschenrechtsbericht ist kein bloßer Appell. Mir seiner Zustandsbeschreibung macht er die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs deutlich. Mit seinen Lösungsvorschlägen bringt er politische Handlungsperspektiven auf den Tisch, zu denen sich die Bundesregierung und die Länder verhalten müssen. Dies macht die aktuell von den Grünen und etlichen Verbänden geforderte Einrichtung einer Enquetekommission zur menschenrechtskonformen Umsetzung der UN-BRK durch den Deutschen Bundestag keineswegs obsolet.

Die Idee der Inklusion ist gerade im bildungspolitischen Streit so zerrieben und entstellt worden, dass sie im politischen und gesellschaftlichen Diskurs „wiederbelebt“ werden muss. Außerdem geht es darum, „blinde Flecken“ aufzudecken und „Erkenntnislücken“ zu füllen. Es muss dringend klargestellt, werden, dass mit der Transformation des Förderschulsystems auch das selektive allgemeine Schulsystem transformiert werden muss, damit sich inklusive Bildung barrierefrei und diskriminierungsfrei entwickeln kann. Das DIMR stellt diese Forderung nicht explizit, verweist aber immerhin darauf, dass in Ländern mit niedrigen Exklusionsquoten gemeinsames Lernen von Klasse 1 - 9/10 ohne äußere Leistungsdifferenzierung konstitutiv ist.

Brigitte Schumann           01/23

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