Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL) hat in einer Studie untersucht, wie sich die Ökonomisierung schulischer Bildung in den letzten Jahren entwickelt hat. Dabei fällt auf, dass nicht nur ökonomische Begründungs-, Entscheidungs- und Handlungslogiken im hiesigen Schulwesen Platz gegriffen haben. 

Publikation Engartner

Aus der Ankündigung der RLS: "Nahezu unbemerkt von der medialen Öffentlichkeit wartet inzwischen eine Vielzahl unternehmensnaher Stiftungen mit Lehrerfort- und -weiterbildungen auf, die mit den Angeboten von Hochschulen, Ministerien und ihnen nachgeordneten Einrichtungen konkurrieren. Wenigstens zwei Dutzend Schulbuchverlage, Stiftungen und Verbände – darunter der Bundesverband deutscher Banken, der Verband der Chemischen Industrie, aber auch die Wissensfabrik als Zusammenschluss von mehr als 140 Unternehmen – halten Weiterbildungsmöglichkeiten vor. Ausgehöhlt wird das staatliche Schulsystem überdies durch den wachsenden «Bildungsmarkt» der Nachhilfeinstitute, deren Wirkmächtigkeit sich daran ablesen lässt, dass inzwischen jedes vierte schulpflichtige Kind Nachhilfe erhält. Die vorliegende Studie zeigt, dass der Aufstieg dieser außerschulischen Lernorte einerseits in dem Versagen des staatlichen Schulsystems begründet liegt, andererseits aber auch mit den ausgesprochen vielfältigen Angebotsstrukturen der Institute zu erklären ist.

Ferner belegt die Studie, dass Bund und Länder den Digitalkonzernen mit dem 2019 verabschiedeten «DigitalPakt Schule» ausgesprochen lukrative Absatzmärkte geschaffen haben. Es wird deutlich, dass Google, Apple, Microsoft und Samsung vergleichsweise wenig Widerstände auf dem Weg in die Klassenzimmer zu überwinden hatten, während zum Beispiel der von Amazon angebotene «Kindle Storyteller Kids»-Schreibwettbewerb in einigen Bundesländern verboten wurde. Es kann nachgewiesen werden, dass die Digitalisierung der Schulen bislang eher von ökonomischen Interessen als von pädagogischen Konzepten geprägt ist, weshalb abzuwarten bleibt, ob das milliardenschwere Programm Lehrenden und Lernenden das Lehren und Lernen wirklich erleichtern wird.  Anhand ausgewählter bildungspolitischer Diskurse zeigt die Studie, dass die Debatte um «Schulzeitverkürzung » nach den Vorgaben des achtjährigen Gymnasiums (G8), die Expansion ökonomischer Bildung in den Stundentafeln und die curriculare Aufwertung der auf Arbeitsmarktrelevanz zielenden Berufsorientierung als Ausdruck der Ökonomisierungstendenzen im Schulsystem zu deuten sind. Zwar kann die Frage, wie es ausgerechnet im Land der Dichter*innen und Denker*innen zu einer derart radikalen Abkehr von Allgemeinbildungsansprüchen kommen konnte, nach wie vor nicht erschöpfend beantwortet werden. Es wird jedoch deutlich, dass der Epochenbruch in unserem Bildungsverständnis seinen Ausgangspunkt in der flächendeckenden Einführung zentraler Schulleistungsvergleiche wie PISA, IGLU und TIMSS findet.  Wie nicht nur die beiden Interviews mit einer Schulleiterin und einem Schulleiter in dieser Publikation zeigen, unterliegt das Schulsystem auch deshalb immer häufiger dem Primat der Ökonomie, weil Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch die gesellschaftliche Erwartungshaltung darin gebremst werden, sich um ihrer selbst willen zu bilden. So zeigt die vorliegende Untersuchung anhand von 59 geforderten und teilweise neu eingeführten Unterrichtsfächern, dass Schul-, Bildungs- und Kultusministerien inzwischen Anwendbarkeit, Verwertbarkeit und Arbeitsmarktkompatibilität von Bildung vielfach zum Maßstab schulischer Lehr- und Lernprozesse erklärt haben. Inwieweit Privatschulen, Nachhilfeinstitute und digitale Bildungsangebote die gesellschaftliche Spaltung vertiefen und verfestigen, wird im Einklang mit verschiedenen empirisch fundierten Erkenntnissen aufgezeigt.  Die Studie beleuchtet insofern nicht nur Gesetzmäßigkeiten und Glaubensbekenntnisse, die der Ökonomisierung schulischer Bildung hierzulande den Weg geebnet haben, sondern analysiert zugleich deren Ursachen, wie zum Beispiel die chronische Unterfinanzierung des Schulsystems, die ihren Niederschlag in baufälligen Schulgebäuden ebenso findet wie in dem grassierenden Mangel an (professionell ausgebildeten) Lehrkräften. Die Gefahren, die uns daraus erwachsen, dass wir Bildung mit individuellen Preisen statt mit gesellschaftlichen Werten belegen, sind vielfältig. Einigen dieser Gefahren – wie etwa denen, die mit der Unterfinanzierung des staatlichen Schulsystems sowie mit der Digitalisierung schulischer Bildung durch Google & Co. verbunden sind – wird in der vorliegenden Studie nachgegangen, wobei die Kritik am Status quo – sofern möglich – mit Positivbeispielen konstruktiv gewendet wird und schließlich in acht schulpolitischen Forderungen kulminiert.

Download der Studie: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_6-2020_Oekonomisierung_schulischer_Bildung_Web.pdf

Studie für die Otto-Brenner-Stiftung: https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH100_Lobbyismus_Schule.pdf

Diskussion mit Tim Engartner: https://www.facebook.com/rosaluxnrw/videos/vb.120641721397698/543701789871129/?type=2&theater  (facebook-Account nicht erforderlich)